Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
Warten Sie bis neun Uhr, wenn das möglich ist.«
»Und Sie müssen nicht zur Arbeit?«
»Ich gehe morgen nicht hin«, sagte sie. »Ich rufe an. Niemand wird ein Problem damit haben.«
»Ich wünschte, alle, mit denen wir zu tun bekommen, verhielten sich so kooperativ wie Sie«, sagte Radick.
Sie schüttelte den Kopf. Sie zögerte und lauschte auf die Schritte eines der Kinder auf dem oberen Treppenabsatz. Welches der Kinder es auch gewesen sein mochte, niemand kam nach unten.
»Es fühlt sich an, als ob etwas zum Abschluss kommt«, sagte sie. »Ich habe lange damit gekämpft. Und jetzt weiß ich nicht, was ich denken soll. Ich versuche, es zu verstehen. Er ging arbeiten, er zahlte für alles, wofür er aufkommen musste, aber immer gab es diese Distanz. Ich dachte, es läge an mir. Man denkt immer, es liegt an einem selbst, stimmt’s?«
Parrish wollte ihr zustimmen, doch Carole Paretski erwartete keine Antwort auf ihre Frage.
»Es kommt mir vor, als würde ich alles versuchen, diesen Teil meines Lebens irgendwie loszuwerden.«
»Und die Kinder?«, fragte Parrish.
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was ich denken soll. Sie fragen mich nicht nach ihm. Sie sprechen nie über die Scheidung. Sie gehen mit ihm nach Hause, wenn er sie abholen kommt. Dann unternehmen sie irgendwas – chinesisches Essen, Kino, Einkaufszentren, und schließlich kommen sie mit all dem Zeug zurück, das er ihnen gekauft hat. Zum Vatertag schicken sie Karten. Sie bitten mich um Geld, damit sie ihm etwas zum Geburtstag und zu Weihnachten besorgen können. Sie sehen, was sie sehen wollen, und weiter schauen sie nicht.«
»Und falls sich hier etwas ergeben sollte? Falls wir herausfinden, dass er indirekt in etwas verwickelt gewesen sein könnte, das …«
Carole Paretski hob die Hand, um Parrish zum Schweigen zu bringen. »Damit beschäftigen wir uns, wenn es so weit ist«, erklärte sie. »Vorher will ich nichts wissen, und ich werde auch keine Fragen stellen, okay?«
»Einverstanden«, erwiderte Parrish. »Wir machen uns jetzt auf den Weg. Morgen früh kommen wir wieder. Jimmy wird um neun Uhr zusammen mit ein paar Uniformierten hier sein. Ich komme ein bisschen später.«
Schweigend legten Parrish und Radick den Weg zum Revier zurück. Sie brachten die Kartons zur Asservatenkammer, wo sie in Tüten verpackt und etikettiert wurden. Den Schreibkram teilten sie unter sich auf, dann zog Parrish los, um Valderas zu suchen.
Valderas hatte kein Problem damit, ihnen drei Uniformierte zur Verfügung zu stellen, aber er bestand auf einer schriftlichen Erklärung von Carole Paretski, die im Beisein von mindestens zwei der anwesenden Beamten übergeben werden und aus der hervorgehen sollte, dass sie die Erlaubnis zur Durchsuchung des Hauses erteilt hatte.
Parrish erklärte, er würde diese Erklärung tippen, bevor er nach Hause ginge.
Radick verließ das Revier um kurz vor zehn Uhr. Es war ein langer Tag gewesen, und ihre Schicht hatte bereits vor einigen Stunden offiziell geendet. In Zeiten wie diesen spielte das keine Rolle. In Zeiten wie diesen war ihre Arbeit kein Job mehr, sondern schlicht etwas, das unbedingt erledigt werden musste.
Parrish saß allein an seinem Schreibtisch. Er musste an etwas denken, das Carole Paretski gesagt hatte: Es kommt mir vor, als würde ich alles versuchen, diesen Teil meines Lebens irgendwie loszuwerden. Verhielt sie sich so kooperativ, weil sie darin einen Weg sah, sich an ihrem Exmann zu rächen? War ihr Verdacht völlig unbegründet? Ein Mann, der zu hart arbeitete, der seine Familie vernachlässigte, der gern Pornos anschaute, der vor Gott weiß wie vielen Jahren möglicherweise – wer wusste es schon? – etwas zu einem kleinen Mädchen auf einem verdammten Spielplatz gesagt hatte und der zufällig einen SUV fuhr? Ein Kerl, der bei einem Fall, mit dem er nicht das Geringste zu tun hatte, ins Visier geraten war? Und das vielleicht nur deswegen, weil die Ermittler keine Alternative hatten? Fixierte er sich zu einseitig auf McKee, weil so etwas in seinem Beruf immer mal wieder passierte? Weil der verzweifelte Wunsch nach einem Resultat zur Obsession geworden war?
Parrish dachte darüber nach, wie es wäre, alles zu ändern. Es gab tatsächlich Menschen, die ihr Leben änderten – und manchmal fiel die Entscheidung mit der Plötzlichkeit und Macht eines Blitzschlags. Er hatte es selbst schon erlebt. Menschen zogen um in einen weit entlegenen Staat – Wisconsin oder Nebraska zum Beispiel –,
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