Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
wo es nichts zu sehen gab außer Gewitterwolken und noch mehr Abgeschiedenheit. Sie bauten ein Haus aus rauem Holz auf einem Fundament von ausrangierten Bahnschwellen und Betonsteinen. Nichts war zu hören außer dem Heulen des Windes und den gelegentlichen Schwerlastern auf der Fernstraße. Nichts, was lauter war als das Atmen eines Menschen im Nachbarzimmer.
Parrish glaubte, dass er – sollte er so etwas tun – New York niemals vergessen könnte. Er hatte Veteranen gesehen – zehn Jahre im Ruhestand, die Hetze und der Druck der Jagd bloß noch eine vage Erinnerung, Teil eines anderen Lebens, das sie vergessen und verleugnen wollten. Parrish könnte so etwas tun. Er könnte eine solche Entscheidung treffen. Doch er wusste, dass er es nicht tun würde. Er gehörte zu denen, die, wenn sie das Haus erst verlassen hätten, spätestens nach fünf Blocks von Heimweh geplagt würden.
An einem bestimmten Punkt begriff man, dass man sämtliche Veränderungen, die man im Leben vornehmen würde, bereits hinter sich hatte. Die Person, zu der man sich entwickelt hatte, war die, die man für immer und alle Zeiten bleiben würde. In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle löste eine solche Feststellung Enttäuschung aus. In Parrishs Fall handelte es sich um eine Tatsache und eine Realität, der er nicht ausweichen musste.
Einen Moment lang überlegte er, ob er Eve anrufen sollte. Er entschied sich dagegen. Er wollte allein sein.
Er stand auf und betrachtete noch einmal die Akten auf seinem Schreibtisch. Das ist es, was ich tue , dachte er. Das ist es, was ich immer tun werde. Es ist mein Heroin.
56
Dienstag, 16. September 2008
»Wir durchsuchen gerade das Haus seiner Exfrau.«
»Das ist das Haus, aus dem Sie gestern die Pornos mitgebracht haben?«
»Ja, ganz genau.«
»Und seine Frau unterstützt Sie dabei?«
»Man könnte sich keine bessere Unterstützung wünschen.«
»Bereitet Ihnen das Kopfzerbrechen?«
»Was? Dass sie uns helfen könnte, um sich an ihm zu rächen?«
»Sie haben sich voneinander entfremdet, nicht wahr? Sie sagten doch, dass die Trennung nicht friedlich verlaufen ist.«
»Wann, zum Teufel, verläuft eine Scheidung schon friedlich? Für mich klingt das nach einem Widerspruch in sich. Eine einvernehmliche Trennung. Wenn sie sich so verdammt einvernehmlich fühlen, warum bleiben sie dann nicht zusammen?«
»Klingt das ein bisschen verbittert, Frank?«
»Egal. Wichtig ist, dass Jimmy Radick jetzt mit ein paar Uniformierten dort ist und dass sie danach suchen, ob es zumindest ein paar vage belastende Hinweise gibt.«
»Zum Beispiel?«
»Na ja, wenn er der Täter ist, wenn er die Mädchen tatsächlich getötet hat, dann wäre es für solche Leute nicht ungewöhnlich, ein paar Erinnerungsstücke zu behalten. Vielleicht hat er im Haus etwas zurückgelassen und war bis jetzt nicht in der Lage, es herauszuholen. Und falls er nur Informationen an jemanden außerhalb der Jugendbehörde weitergibt, finden wir vielleicht ein Adressbuch, ein altes Handy, irgendetwas, das sich dem Fall zuordnen lässt.«
»Aber der früheste Mord, den Sie bearbeiten, ist von … was haben Sie noch gesagt?«
»Der früheste Fall in unseren Akten stammt aus dem Oktober 2006. Melissa. Die Ausreißerin.«
»Aber er hat sich doch schon vorher von seiner Frau getrennt, vor drei Jahren.«
»Klar hat er das, aber woher sollen wir wissen, dass Melissa wirklich die Erste war? Und er ist seitdem viele Male im Haus gewesen.«
»Aber nur, um die Kinder übers Wochenende abzuholen, oder?«
»Klar, aber wer weiß schon, was er dort versteckt oder vergessen haben könnte. Schon richtig, es ist ein Schuss ins Blaue, aber ich darf mir die Chance nicht entgehen lassen.«
»Sie glauben, er ist Ihr Mann.«
»Ich hoffe , er ist unser Mann.«
»Und glauben Sie es auch?«
»Ganz ehrlich? Ich habe nichts. Nichts Substanzielles. Ich interessiere mich für McKee nur deshalb, weil ich überzeugt bin, dass jemand aus der Jugendbehörde dahintersteckt, direkt oder indirekt. Und die Wahrheit ist, dass ich sonst niemanden habe, bei dem ich auch nur die Stirn runzeln würde.«
»Und dass der Täter aus der Jugendbehörde kommt, steht für Sie außer Zweifel?«
»Ja, was mich betrifft, kann kein Zweifel bestehen. Dafür gibt es einfach zu viele Indizien, die in diese Richtung deuten.«
»Wie werden Sie jetzt weitermachen?«
»Wir müssen irgendetwas finden, das genügend Beweiskraft besitzt, um einen Durchsuchungsbeschluss für seine
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