Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
Brooklyn. Mein Dad lächelte in sich hinein, als wäre ich gar nicht da. Er sagte, es wäre jetzt völlig egal, was Lou Werner sagen würde, und dass man nie einen der Räuber erwischen würde. Ich sah ihn an, gleich nachdem er das gesagt hatte. Er hatte diesen besonderen Gesichtsausdruck, wissen Sie? Ich dachte damals – und das denke ich immer noch –, dass er es war, der die beiden Männer in ihrem Wagen erschoss und Jimmy Burke im Lufthansa-Fall aus der Bredouille half.«
»O mein Gott …«
»Sie brauchen nichts zu sagen. Es war der Kerl mit all den Auszeichnungen und Belobigungen. Es war der Held an der Spitze der Saints of New York.«
29
Nach seiner Sitzung bei Marie Griffin unternahm Parrish einen Spaziergang. Es war kurz nach zehn. Radick war noch nicht aufgetaucht, und auf seinem Schreibtisch lag keine Nachricht. Normalerweise hätte Parrish ihn jetzt aufzustöbern versucht, doch heute Morgen – an diesem besonderen Morgen – hatte er ein wenig Zeit und Raum für sich selbst nötig.
Er brauchte fünfundzwanzig Minuten bis zur Kirche St. Michael. Eine Weile blieb er draußen stehen, dann trat er ein, hielt sich hinter den Kirchenbänken und wandte sich nach links. Schließlich ging er durch das Seitenschiff nach vorn. Auf halbem Weg hielt er inne, setzte sich und lauschte dem Klang der Stille.
Father Briley entdeckte ihn von der Kanzel aus und nickte zum Gruß. Gerade als Parrish glaubte, er würde in Ruhe gelassen, machte sich der Priester auf den Weg zu ihm herunter. Briley war ein alter Mann, Ende sechzig vielleicht oder Anfang siebzig. Nach allem, was Parrish gehört hatte, war ihm mehrmals ein Wechsel in eine andere Gemeinde angeboten worden, den er jedes Mal abgelehnt hatte. Briley hatte schon zu dieser Kirche gehört, als Parrish noch ein Kind gewesen war, als sein Vater ihn hin und wieder sonntags zur Messe gebracht hatte, denn er, John Parrish, war ein Nur-für-den-Fall-Katholik gewesen.
»Frank.«
»Father.«
»Ich darf mich setzen?«, fragte Briley.
Parrish lächelte.
»Geht es dir gut, Frank?«
»Bestens.«
»Es scheint, dass wir uns nur noch selten unterhalten, oder?«
»Ja, Father, da haben Sie recht.«
»Du arbeitest zu viel, vermute ich.«
»Die Arbeit findet kein Ende. Das wissen Sie besser als jeder andere.«
Briley lächelte. Er streckte die Hand aus und umfasste Parrishs Unterarm. »Wir wissen deine Großzügigkeit zu schätzen, Frank, wie immer.«
»Ich tue, was ich kann.«
Briley zögerte, dann schaute er Parrish direkt in die Augen. »Dich umgibt die Aura eines besiegten Mannes.«
»Besiegt?« Parrish schüttelte den Kopf. »Frustriert, vielleicht, besiegt aber nicht. Man hat mich noch nicht gebrochen.«
»Du musst besser auf dich achtgeben.«
»Warum sagen Sie …«
»Frank, ich sehe, was ich sehe. Ich bin schon zu lange hier, um mich noch hinters Licht führen zu lassen. Du isst nicht anständig. Und ich vermute, dass du auch nicht richtig schläfst. Und dann das Trinken …«
»Ich tue das, was schon in der Bibel steht, Father.«
Briley lachte. »Die alten Verse?«
»Sie kennen sie?«
»Natürlich. Die Sprüche Salomons, einunddreißig, Verse sechs und sieben. ›Gebt starkes Getränk denen, die am Umkommen sind, und Wein den betrübten Seelen, dass sie trinken und ihres Elends vergessen und ihres Unglücks nicht mehr gedenken.‹ Man kann kein Priester in einer irischen Gemeinde sein, ohne diese Verse hunderttausendmal gehört zu haben, glaub mir.«
Parrish wandte den Blick zum anderen Ende der Bänke.
»Und deine Familie?«, fragte Briley. »Wie geht es den Kindern? Clare?«
»Clare ist Clare, und meine Kinder sind schon so lange keine Kinder mehr, dass man sich kaum noch vorstellen kann, dass sie es jemals waren. Sie leben ihr eigenes Leben, wie wir alle.«
»Leidest du unter deiner Arbeit?«
Parrish schwieg einen Moment nachdenklich, ehe er antwortete: »Ja, wahrscheinlich schon. Wir sehen die schlimmsten Dinge, und immer erst, wenn es zu spät ist, verstehen Sie?«
»Ich kann mir vorstellen, dass die Last mit der Zeit immer schwerer wird.«
»Entweder das, oder man wird abgehärtet und verbittert.«
»Wie dein Vater?«
Parrish hob den Blick zu dem Priester.
Briley nickte. »Er kam manchmal allein hierher. Nicht zur Messe. Nur um ein bisschen Ruhe und Stille zu finden. Ich habe mich einige Male mit ihm unterhalten, und er sah dann so aus, wie du jetzt aussiehst.«
Parrish runzelte die Stirn.
»Als trüge er dieselben Lasten.«
»Nach
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