Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
Nacht oder Tagesanbruch war, die Toten sah er so oder so. Manchmal die Frauen. Und die Teenager, Mädchen wie Rebecca. Alle verschwunden, ausgelöscht. Aber meistens waren es die Kinder. Für die Kinder gab es keine Begründung, keine Rechtfertigung, keine Entschuldigung. Und ständig lauerte sein Vater im Hintergrund – der versoffene Mistkerl. Niemand kannte die Wahrheit über John Parrish. Was er tat, wie er es tat, wie er den ganzen Dreck mit einer sauberen weißen Schicht jungfräulichen Schnees zudeckte. Sechzehn Jahre war er jetzt tot, und Frank Parrish konnte den Dämon des alten Mistkerls noch immer nicht vertreiben. Er war nicht wegen seines Vaters Cop geworden, sondern trotz seines Vaters.
Vielleicht würde er Doktor Marie wirklich ein paar Geschichten erzählen. Vom JFK-Airport, dem Bericht des McClellan-Committees, den Teamstern und Local 295. Vom verdammten Jimmy Hoffa und dem New York State Investigation Committee. Den Gambinos, den Luccheses, den Gottis, dem Lufthansa-Raub 1978, der Kennedy Rackets Investigation, Henry Davidoff, Frank Manzano und dem Lucchese-»Leutnant« Paul Vario. Das alles war tatsächlich geschehen – die Vereinigten Staaten gegen die International Brotherhood of Teamsters – , und Detective John Parrish war mittendrin gewesen. Die Belobigungen wegen Tapferkeit und vorbildlichem Verhalten schienen ihm reihenweise aus dem Arsch zu purzeln. Scheißkerl.
Parrish verließ die U-Bahn an der Hoyt Street und ging zu Fuß zum Revier.
Die Mordkommission des 126sten Reviers war ein dumpfer und brutaler Ort. Hier zu arbeiten , hatte mal jemand gesagt, ist, als ob man in Zeitlupe einen Autounfall beobachtet. Du weißt, was passieren wird, aber du kannst es nicht verhindern, und auf keinen Fall kannst du wegschauen.
Es war zu oft wiederholt worden, um nicht der Wahrheit zu entsprechen, doch das Leben als Cop war kein Kinofilm. Das Telefon klingelt. Irgendwo gibt es einen Toten. Man sucht die Autoschlüssel und fährt los. Man kommt an. Keiner hat irgendwas gesehen. Keiner will etwas sehen. Die Streifenwagenbesatzungen haben den Bereich um den Fundort abgesperrt. Der Deputy Coroner verspätet sich. Man steht eine Weile in der bitteren Kälte oder der sengenden Hitze. Man muss pinkeln, darf sich aber nicht entfernen. Man raucht zu viele Zigaretten. Irgendwann ist man das Warten leid und tritt, mit einer Taschenlampe und Latexhandschuhen bewaffnet, näher heran. Man riskiert einen Blick aus der Nähe, man sieht das Offensichtliche und sucht nach dem Nichtoffensichtlichen. Man durchsucht die Taschen des Mannes oder die Handtasche der Frau. Vielleicht ist das Opfer auch einer der Transvestiten aus Downtown, und man durchsucht seine Handtasche. Man findet Kaugummi, Schlüssel, ein Handy, Papiergeld und Münzen, Zigaretten, Kondome, Kugelschreiber, U-Bahn-Tickets, Bustickets, Bonbonpapierchen, eine Uhr. Manchmal eine Trillerpfeife oder eine Dose Pfefferspray, Kordeln, Papierschnipsel mit Notizen in unleserlicher Handschrift, Rezepte, Fotos von Kindern, Fotos von Ehemännern, Frauen, Liebhabern, Freundinnen, Eltern und Freunden. Es gibt eine begrenzte Anzahl von Dingen, die man in den Taschen der Toten findet.
Wenn der Deputy Coroner endlich auftaucht, hilft man ihm, die Leiche umzudrehen, die offensichtlichen Zeichen von Verletzungen durch Kugeln, Messer, Ketten, Rohre, Baseballschläger, Stiefel oder Fäuste zu registrieren; hin und wieder auch durch etwas Melodramatisches wie eine Nagelpistole, einen nicht zurückfedernden Schlosserhammer oder einen schweren Kreuzschlüssel – die Sorte, mit denen man die Radschrauben an Autoreifen so fest anzieht, dass sie sich auf dem Freeway nicht lösen. Dann sucht man die unmittelbare Umgebung ab. Man hält Ausschau nach Bierdosen, Zigarettenpapierchen, Patronenhülsen, Blutspritzern, Hirnmasse, Bremsspuren, Reifenprofilen, Fluchtrouten, günstigen Standorten für Augenzeugen, Aufprallspuren von verirrten Kugeln an Betonwänden und Holztüren. Man macht jede Menge Notizen. Man spürt die enervierende Flut der Desillusionierung beim Eintragen eines neuen Namens auf der Liste der Mordopfer.
Unter der direkten Führung des Direktors des Kriminallabors arbeiten Supervisoren, Kriminalisten, Tatortanalytiker, Waffenexperten, Kriminaltechniker und Fingerabdruckspezialisten. Im Büro des Coroners arbeiten mehrere Deputy Coroner, forensische Pathologen, Anthropologen, Toxikologen, Koordinatoren für Kontrolluntersuchungen und die Peer-Review-Einheit. Die
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