Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
Er arbeitete langsam und sorgfältig, um keine Kratzer im Bereich des Schlosses oder auf der glatten Oberfläche der Box zu hinterlassen. Nach einer Minute hatte er sie geöffnet. Dann hielt er inne und betrachtete eine Weile die Papiere, ehe er sie schließlich herausnahm.
Sieben Akten, alle mit dem Stempel der Jugendbehörde, zwei von der CAA, die anderen vom Jugendamt. Auf sämtlichen Unterlagen befanden sich handschriftliche Notizen, alle mit RMcK abgezeichnet. Vier Jungen, drei Mädchen – das jüngste neun, das älteste siebzehn Jahre alt. Waren das McKees aktuelle Fälle? Ging es um bevorstehende Hausbesuche? Hatten alle Angestellten der Behörde eine abschließbare Box in ihrem Auto, um die Unterlagen zu aktuellen Fällen für Besuche greifbar zu haben? Parrish hatte keine Ahnung. Es klang auf jeden Fall plausibel, und die Notizen schienen tatsächlich auf aktuelle Fälle hinzudeuten …
Dann musterte Parrish die Unterlagen ein zweites Mal. Zwei der Jungen waren schwarz, ebenso eines der Mädchen. Das zweite Mädchen war zwölf Jahre alt und brünett, vielleicht Mexikanerin oder Puerto-Ricanerin. Das letzte Mädchen, sechzehn Jahre alt, war blond. Sie war außerdem hübsch, und ein schnelles Überfliegen der Unterlagen verriet Parrish, dass sie vor etwas mehr als neun Monaten von einer Familie in South Brooklyn adoptiert worden war. Die jüngsten Kommentare in ihrer Akte stammten nicht von McKee, sondern von jemand anderem. Jemand mit den Initialen HK . HK? Hatten sie jemanden mit den Initialen HK befragt?
Parrish legte die Akten ab. Er hatte sein Notizbuch bei sich. Befand sich darin noch die Namensliste, die er von Lavelle erhalten hatte? Er durchwühlte seine Taschen, fand die Liste, faltete sie auf und strich sie auf dem Deckel der Box glatt. HK … HK … Harold Kinnear. Ja, jetzt erinnerte er sich. Der ältere Typ. Seit dreißig Jahren in der Behörde. Was hatte er noch gesagt? Dass wir, je zivilisierter und kultivierter wir geworden seien, dabei immer mehr die Fähigkeit verloren hätten, für unsere Kinder zu sorgen. Oder etwas in der Art.
Das hier war nicht McKees Fall. Herr im Himmel, es war kein Fall von McKee.
Parrish drehte die Liste um. Auf der Rückseite notierte er den Namen des Mädchens, Amanda Leycross, und ihr Geburtsdatum, den 12. August 1992, außerdem Namen und Anschrift des Paares, das sie im Januar adoptiert hatte. Martin und Bethany Cooper, Henry Street, South Brooklyn. Parrish kannte die Henry Street, die gerade einmal drei Blocks von Caitlins Wohnung und vielleicht ein halbes Dutzend Blocks von McKees Haus entfernt lag. Wenn man Williamsburg und Karen aus der Gleichung entfernte und sämtliche relevanten Orte in einem Stadtplan verzeichnete – Family Welfare Two, den Kelly-Duncan-Tatort hinter dem Brooklyn Hospital, die Sackett Street, die Adresse der Coopers in South, Danny Langes Wohnung auf der Hick Street –, dann bildeten diese Markierungen einen Kreis; einen Kreis, der sich um diesen Teil der Stadt herumzog. Bis zur Brooklyn Bridge im Norden, im Westen und Süden bis zum Brooklyn-Queens-Expressway. McKee hatte einen Kreis um sich gezogen. War das der Typus des Pendlers, von dem die FBI-Profiler immer sprachen? Jemand, der jedes Mal zu einem Tatort fuhr und die Leichen weit genug weg von zu Hause deponierte, um keine Aufmerksamkeit zu erregen? Erst wenn man alles einbezog, wenn man sämtliche Fundorte zusammen betrachtete … dann hatte man plötzlich ein völlig neues Bild vor sich.
Und Amanda Leycross? War sie das nächste Opfer auf der Liste? War sie vielleicht schon tot? Oder ging es doch nur um die Akte eines Falls, bei dem McKee Hilfestellung leistete als Berater oder Supervisor? Lag Parrish vielleicht komplett daneben? Diesen Gedanken konnte er sich nicht leisten. Noch nicht. Nicht bis er herausgefunden hatte, wer Amanda Leycross war und warum McKee ihre Akte in seinem Wagen hatte.
Parrish musste verschwinden, und zwar schnell. Er steckte die Akten wieder in die Box und schloss sie vorsichtig ab. Dann stellte er sie an exakt dieselbe Stelle, an der er sie gefunden hatte, griff nach seiner Jacke, schloss die Türen des Autos ab und trat ans Garagentor.
Er zählte bis fünf, öffnete eilig das Tor, warf es wieder zu, verschloss es und machte sich auf den Weg Richtung Gasse. Binnen wenigen Sekunden war er zurück auf der Straße und schlug den Weg Richtung Union Street ein, den er gekommen war. Sein Herz hörte nicht auf zu hämmern, bis er endlich in der U-Bahn
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