Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
Suche nach weiteren Fotos der toten Mädchen zu helfen. Das war ein Ablenkungsmanöver, und Radick wusste es ganz genau. Doch er protestierte nicht.
»Haben Sie auch etwas Nützliches vor?«, fragte er Parrish stattdessen.
»Vielleicht.«
»Etwas, das Sie allein durchziehen müssen?«
»Etwas, das ich allein durchziehen sollte.«
»Glauben Sie, ich würde es nicht hinbekommen?«
»Jimmy, bitte … ich habe gerade die Ärztin angeschnauzt. Mir steht der Sinn nicht nach Diskussionen. Gehen Sie und helfen Sie Erickson. Ich rufe an. Was ich vorhabe, ist nicht mehr oder weniger wichtig als der Versuch, weitere Hinweise auf das Schicksal der Mädchen zu entdecken. Und dabei sollten wir es belassen.«
»Wie lange werden Sie brauchen?«
»Zwei Stunden vielleicht.« Parrish schaute zur Uhr. »Wir treffen uns ungefähr um zwölf wieder hier.«
Radick zog ohne weitere Fragen ab. Zehn Minuten später war auch Parrish auf dem Weg – auf dem Weg zurück zur Sackett Street und dem Garagenkomplex, in dem McKee seinen SUV abstellte.
Die Straße wirkte verlassen. Leere Fenster blickten ihm entgegen. Er eilte zielstrebig die Straße entlang. Nichts war gefährlicher, als wie ein Fremder zu wirken. In seinen Taschen befanden sich zwei Schraubenzieher, ein Teppichmesser, eine Taschenlampe und ein Schlüsselring mit einer Sammlung von Metallstreifen, einige gerade, andere mit Winkeln, wieder andere mit Haken oder u-förmigen Enden. Außerdem hatte er eine Reihe echter Autoschlüssel dabei. All das gehörte zur Standardausrüstung eines Autodiebs. Am Ende der Gasse wartete Parrish einige Sekunden, um ganz sicher zu sein, dass niemand plötzlich ankam, fortging oder seine Garage benutzen wollte. Es war still, so still, dass sogar seine eigenen Schritte auf dem Schotter, sogar sein beschleunigter Herzschlag in seinen Ohren zu dröhnen schienen. Drei Minuten sind eine verdammt lange Zeit, wenn man sie mit nichts als Warten zubringt. Ein halbes Dutzend Mal machte Parrish sich klar, dass er abhauen sollte. Auf der Stelle abhauen. Einfach gehen, ohne sich umzublicken, ohne einen weiteren Gedanken an das zu verschwenden, was zu tun er im Begriff war. Doch er musste bloß daran denken, wie Rebecca ausgesehen hatte, als er sie auf dem Bett in der Wohnung ihres Junkie-Bruders gefunden hatte. Sechzehn Jahre alt. Rote Fingernägel. Winzige Petechien hinter den Ohren und im Weiß ihrer Augen.
Parrish zog ein Paar Latexhandschuhe über und ging mit schnellen Schritten zu McKees Garage. Binnen weniger Augenblicke war er drinnen, hatte das Tor wieder heruntergezogen und geschlossen. Mein Gott, er war nicht mal so clever gewesen, sich vorher abzusichern, dass McKee wirklich im Büro war. Es war Mittwoch. War es völlig ausgeschlossen, dass McKee sich mitten in der Woche einen freien Tag genommen hatte? Meist wurden freie Tage montags oder freitags genommen, um das Wochenende zu verlängern. Aber angesichts dessen, was er hier vorhatte, bedeutete das überhaupt nichts. McKee konnte sich schließlich freinehmen, wann immer er wollte.
Parrish stand in der düsteren Stille der Garage. Er atmete tief durch und gab sich alle Mühe, seinen Herzschlag, seinen Puls zu beruhigen. Es nützte nichts. Er war außer Form, hatte Angst und steckte bereits so tief drin, dass es kein Zurück gäbe, falls man ihn erwischte. Schikane, Einbruchdiebstahl, Hausfriedensbruch, die Verletzung sämtlicher einschlägiger Vorschriften zu den Themen Durchsuchung, Beweissicherung und hinreichender Tatverdacht. Egal, was er hier fände: Wenn man ihn schnappte, wäre er am Arsch.
Im hinteren Teil der Garage, zwischen der vorderen Stoßstange und der Wand, entdeckte er die üblichen Farbeimer, Werkzeugkisten, Abdeckplanen und ein Klappfahrrad, das aussah, als wäre es seit Jahren nicht mehr auseinandergeklappt worden. Dann gab es einen Reservereifen für das Auto, eine Kiste mit Glühbirnen, eine Tüte mit Drahtkleiderbügeln und anderes Zeug, das sicher längst hatte weggeworfen werden sollen. Ansonsten befand sich in der Garage lediglich das Auto.
Parrish schirmte sein Gesicht mit beiden Händen ab und spähte durch das Seitenfenster am Beifahrersitz. Er entdeckte das Alarmlicht am Armaturenbrett. Es leuchtete nicht. Natürlich könnte er die Alarmanlage lahmlegen, aber das dauerte dreißig bis vierzig Sekunden, und bei einer Anlage auf dem neuesten technischen Stand eventuell noch länger. Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand den Alarm hörte … nun, dieses Risiko
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