Der Schrei des Eisvogels
zu schaffen macht, ist, dass Stanley bei seinen Bemühungen, die Dorfschule wieder aufzubauen, von Vater vermutlich nicht viel Hilfe erwarten kann!
26. Oktober.
Heute haben Stanley und ich in der Markuskirche in Byreford geheiratet. Schade, dass wir die Hochzeit nicht in unserer eigenen Kirche feiern konnten, aber immerhin blieb mir auf diese Weise Vaters Einschreiten erspart. Für ihn wäre es die allergrößte Provokation gewesen! Ich bin heute morgen zur Old Hall gehuscht, um Mummy zu sehen. Sie hat viel geweint und gefragt, ob ich es mir nicht doch noch überlegen wollte. Wie wenig sie doch begreift! Bin Guy über den Weg gelaufen, der für die Trimesterferien nach Hause gekommen ist. Er hatte doch wahrhaftig die Stirn, mir Vorhaltungen zu machen, weil ich durch meine Heirat mit einem atheistischen, sozialistischen Agitator der Familie Schande bringe! Er ist wirklich der widerwärtigste kleine Snob, der mir je untergekommen ist. Ich habe Selly geschrieben und ihm geradeheraus die Fakten mitgeteilt. Ich hoffe, er hat mehr Verständnis, auch wenn ich weiß, dass er nie stark genug wäre, es mit Vater aufzunehmen. Später, als ich aus der Kirche kam, musste ich an Selly denken, und wen sehe ich unter den Zuschauern? Niemand anders als die kleine Agnes Foote, nunmehr Agnes Creed, denn als ich sie ansprach, erzählte sie mir, errötend, dass sie eine alte Liebe aus Byreford geheiratet habe, und ihrem Aussehen nach hat er nicht lange gefackelt und »seine Zeugungspflicht erfüllt«. Der Euphemismus stammt von Mummy. Sie spricht nur selten von diesen Dingen und falls doch einmal, dann wie von einem notwendigen Übel. Ich hoffe, dass ich nicht so darüber denken werde. Bald werde ich es wissen. Stanley, der unten geblieben ist, um eine Pfeife zu rauchen, hat inzwischen genügend Zeit gehabt, ein paar Tonnen Tabak zu verbrennen! Soll ich eine Glocke läuten und ihn zu seiner »Zeugungspflicht« rufen? Dann werden wir ja sehen, wie »modern« er ist. Aber ich glaube, ich höre ihn gerade.
Eins
»Da bin ich wieder an dieser Stätte der Ausschweifung und des Lasters, und schon sehe ich meine Moral dahinschwinden.«
W ield ging gewöhnlich zu Fuß zur Arbeit. Er hatte es nicht weit, und die Bewegung tat ihm gut. Aber das waren nicht die einzigen Gründe.
Er teilte sein Leben in Schubfächer ein, und das Motorrad gehörte nicht in dasselbe Fach wie der Job. Das war keine unumstößliche Regel. Wenn nötig, würde er es benutzen. Aber warum unnötig Aufmerksamkeit auf sich lenken? Er hatte sich längst »geoutet«, falls darunter zu verstehen war, dass er niemals seine sexuelle Neigung verleugnen würde, aber deshalb musste er noch lange nicht in einem
Kiss-me-Quick-T-Shirt
herumlaufen, oder? Das war nur vernünftig.
Doch sein Verstand, der schneller und klarer als ein Computerprogramm Beweise ordnen, Aussagen und Texte analysieren konnte, wusste auch, dass logisches Denken allein eine riskante Lebensgrundlage ist. Perfektion verzichtet auf Sicherheitsnetz und doppelten Boden. Ein falscher Schritt, und es ist aus.
Lief die Arbeit gut und ging er, auch in seiner Freizeit, ganz in seinem Beruf auf, schien es ihm beinahe, als hätte alles seine Ordnung. Gelegentliche Mußestunden konnte er mit seinem Kampfsportunterricht, seinen Gilbert-and-Sullivan- CD s, der Wartung seines Motorrads und seinen Rider-Haggard-Romanen in den Griff bekommen.
Doch wenn er einen ganzen Tag freihatte oder, schlimmer noch, mehrere Tage, holte ihn die Wahrheit ein. Die hierfür zuständigen Schubkästen waren leer. Es gab niemanden, mit dem er sie hätte teilen können. Es hatte schon länger niemanden mehr gegeben, als er sich eingestehen mochte. Es gab einen Teil in seinem Leben, den er nicht nur sorgfältig in einem Schubfach verstaut hatte. Er hatte ihn eingemauert und die Ziegel verputzt.
Dabei ging es nicht einfach um Sex. Ein Mann konnte ohne Sex auskommen und trotzdem funktionieren. Und falls nicht, gab es Ventile mit minimalem Risiko.
Aber Partnerschaft, Nähe, Fürsorge, Abschiedskummer und Wiedersehensfreude, gemeinsame Reisepläne oder Überraschungsausflüge, Anschuldigungen und Entschuldigungen, Sticheleien, Streit und gleichmäßige Atemzüge im Bett nebenan – all das, was ein Leben zu zweit an Schmerz und Freude mit sich brachte: dagegen hatte er sich abgeschottet, und den Mörtelstaub der Trostlosigkeit konnte noch so viel frische Frühlingsluft, die ihm auf seiner rasanten Fahrt quer durch Yorkshire heftig
Weitere Kostenlose Bücher