Der Schrei des Eisvogels
Summe seiner Teile beliefe. Er hatte sich angewöhnt, sich auf immer nur einen Gegenstand zu konzentrieren und ihn in allen Einzelheiten in sich aufzusaugen, damit die Kunst nicht zur Schwerstarbeit geriet.
In einem langgestreckten Salon blieb er stehen, um den Kopf wieder freizubekommen, und ließ den Blick langsam über die Gemälde schweifen, die sich an den Wänden drängten. Sein Blick blieb an einem kleinen Porträt hängen, dessen schmaler ovaler Rahmen perfekt zu dem Gesicht der Dargestellten passte. Es war eine junge Frau, nicht schön, aber mit einer starken Persönlichkeit, mit tiefen braunen Augen, einer relativ langen Nase und einer blühenden Hautfarbe. Sie erwiderte seinen Blick, wenn auch scheu, dafür aber, wie ihm schien, ein wenig belustigt, so als ob ein verhaltenes Lachen um ihre sittsamen Mundwinkel zuckte – und sah es nicht beinahe so aus, als ob sich ihr linkes Augenlid kaum merklich zu einem Zwinkern senkte? Er schaute näher hin, und der Eindruck war verflogen.
»Das ist hübsch«, sagte er. »Hat sie einen Namen?«
»Vermutlich, ich kann mich nicht erinnern. Irgendeine Vorfahrin, achtzehntes Jahrhundert natürlich«, sagte Halavant geistesabwesend. »Interessieren Sie sich besonders für Porträts, Inspektor?«
»Nein. Sie ist mir nur ins Auge gefallen. Diese ernste, geradezu feierliche Pose, und dann hat man plötzlich das Gefühl, dass sie amüsiert guckt, gleichsam, als ob sie einem jeden Moment zuzwinkern wollte.«
»Wie?« Halavant stellte sich neben ihn. »Ja … ja … vielleicht …«
Er wandte sich abrupt ab und sagte: »Sie werden entschuldigen, ich hätte Sie gerne als meinen Gast begrüßt, aber da ich eben erst heimgekommen bin, habe ich einiges zu erledigen … könnten wir daher vielleicht diese Angelegenheit regeln …«
Die Führung war eindeutig zu Ende. Zeit, wieder Polizist zu sein.
»Und an welche Angelegenheit hatten Sie dabei wohl gedacht, Sir?«
»Den falschen Alarm letzte Nacht natürlich.«
»Vielleicht können Sie mir mehr davon erzählen, Sir.«
»Was kann ich Ihnen erzählen, was Sie nicht bereits wissen?«, fragte er ein wenig irritiert und griff nach einem altmodischen Klingelzug neben dem Kamin. »Ich habe letzte Nacht Mrs. Bayle angerufen, um ihr zu sagen, wann ich heute zurück sein würde, und sie hat mich unterrichtet … Ah, Mrs. Bayle. Dieser Vorfall letzte Nacht. Erzählen Sie uns, was passiert ist.«
Die Frau, die mit stiller Eile und, zu Pascoes Erleichterung, ohne Fop gekommen war, sagte: »Um neun hat’s geklingelt. Ich hab durchs Guckloch gesehen, und als ich sah, dass er es war, hab ich aufgemacht …«
»Er?«, unterbrach Pascoe.
»Er. Der Constable. Mr. Bendish.«
»Ach ja«, sagte Pascoe unverbindlich, doch er spürte den neugierigen Blick von Halavant, der vermutlich allmählich hellhörig wurde.
Mrs. Bayle interpretierte das »Ach ja« als Aufforderung fortzufahren.
»Ich frag ihn, was er will, und er sagt was von einer Meldung, dass sich ein Mann in der Gegend rumtreibt, der verdächtig aussähe und so, und ob mir irgendwas aufgefallen wär.
Ich hab gesagt, nein, nicht dass ich wüsste, und gute Nacht. Aber er hat gesagt, es wär wohl besser, wenn er mal einen Blick ins Haus wirft, weil er womöglich seinen Job riskieren würde und ich meinen auch, wenn Mr. Halavant zurückkäme und feststellen würde, dass was fehlt, wo er doch an der Haustür gewesen wär.«
Dieser plötzliche Redeschwall war, wie Pascoe vermutete, eine Präventivmaßnahme gegen Vorhaltungen des Hausherrn, dass sie in seiner Abwesenheit jemanden hereingelassen hatte.
»Und was geschah dann?«
»Er hat sich umgesehen. Alles war in Ordnung, und so ist er wieder gegangen.«
»Und in Ihren Augen gab es keinen Anlass zur Sorge?«
Sie zögerte und sagte dann: »Na ja, nachdem er weg war, hatte ich das Gefühl, draußen was zu hören, eher wie ein Nachtvogel, eigentlich nix Beunruhigendes, aber ich hab vorsichtshalber Fop rausgelassen, man kann ja nie wissen.«
Pascoe schauderte bei dem Gedanken, und Halavant warf ein: »Und natürlich war da nichts. Und wäre doch etwas gewesen, hätte meine äußerst kostspielige, polizeilich empfohlene hochmoderne Alarmanlage die Nachbarn gewarnt. Verzeihen Sie, Mr. Pascoe, aber irgendwie beschleicht mich der Eindruck, dass Sie das meiste von alledem zum ersten Mal hören?«
Es war Zeit für ein Geständnis, wenn auch nicht unbedingt ein umfassendes.
»Sie haben recht, Sir«, sagte er. »Um die
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