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Der Schrei des Eisvogels

Der Schrei des Eisvogels

Titel: Der Schrei des Eisvogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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sprach. Ein tirilierender, singvogelähnlicher Laut, der sich wiederholte. Dann eine weibliche Stimme. Gott war also eine Frau.
    »Ja, Girlie Guillemard am Apparat. Nein, ich wüsste nicht, warum ich noch einmal nachsehen sollte, aber von mir aus. Bleiben Sie dran.«
    Aus dem Rauch trat eine Frau. Ihr wirres, ockerfarbenes Haar wurde von einem Strick im Zaum gehalten. Sie trug eine ausgefranste Brokatweste über einer ursprünglich einmal eleganten Seidenbluse und eine übergroße Jeans, deren heruntergerollter Bund ihre schweren Brüste unterstrich und deren aufgerollte Beine über ein Paar Gummistiefel reichten, einen grünen und einen schwarzen. Sie hatte ein rundes Gesicht, graue Augen, eine Stubsnase und einen zu großen Mund, der sowohl für die Meerschaumpfeife, von der der Rauch stammte, als auch für das Handy, in das sie sprach, reichlich Platz bot. Sie war unglaublich attraktiv.
    Bei Pascoes Anblick blieb sie stehen und sagte: »Wird aber auch Zeit! Soll ich Ihnen Feuer unterm Hintern machen?«
    Eine neue, dem Mittelalter nachempfundene Therapieform?, dachte Pascoe, doch nur für einen Augenblick. Der Schluss lag nahe, dass die Frau ihrem Unmut über das von der Baufirma (Philip Wallop KG , wie ein Schild verkündete) hinterlassene Chaos Luft machte.
    »Nein«, sagte er.
    »Ist da draußen einer?«, fragte sie.
    Da er die Frage weder theologisch noch theatralisch verstand, schüttelte er den Kopf.
    »Kein Schwanz da«, brüllte sie ins Telefon. »Und da es inzwischen schon die Zeit ist, zu der Mr. Wallops Recken längst Feierabend machen, bezweifle ich sehr, dass heute noch einer von ihnen hier auftaucht, meinen Sie nicht auch? Also sagen Sie das Mr. Wallop, wenn er endlich seiner Kiste transylvanischer Erde entsteigt. Morgen mittag steht hier das ganze Dorf zum alljährlichen Abrechnungsfest meines Großvaters auf der Matte, und wenn es bis dahin vor dem Haus nicht wie geleckt aussieht, dann wird der Mistkerl keinen Penny von mir zu sehen kriegen, und wo wir gerade vom Lecken reden …, haben Sie sich alles notiert, meine Liebe? Auf Wiederhören.«
    Sie schaltete das Handy aus und sagte: »Gut. Und wer zum Teufel sind Sie?«
    »Ich bin Detective Chief Inspector Peter Pascoe«, sagte er liebenswürdig. »Und ich würde gerne mit Ihnen sprechen.«
    »Wieso? Hab ich irgendeine Vorschrift übertreten?«
    »Dafür bin ich nicht zuständig, glauben Sie mir«, sagte er. »Nein, es hat nichts mit der Wellnessfarm zu tun.«
    »Dann müssen Sie sich an den Squire wenden«, sagte sie und lief mit energischen Schritten durch die Tür und über die Baustelle zum Haupteingang des Hauses.
    Keuchend folgte Pascoe ihr eine Treppe hinauf und durch eine imposante Tür in einen herrschaftlichen Saal. Im Vergleich zu den Entfernungen, über die Errol Flynn und Basil Rathbone miteinander die Klingen wetzten, war das hier ein Katzensprung. Nichtsdestotrotz fühlte sich Pascoe kühn genug, um, mit einer der Waffen an den Wänden gerüstet und angespornt durch die Filmmusik von Korngold, die seine lebhafte Phantasie heraufbeschwor, sich dem Feind entgegenzustellen und Girlie Guillemards Ehre zu verteidigen.
    Dann schwoll die Musik noch einmal an, und er merkte, dass er Ursache und Wirkung verwechselt hatte. Das war keine Melodie in seinem Kopf, sondern ein virtuoses Cello vom Band, das auf einer Empore am hinteren Ende des Saals abgespielt wurde.
    Die Lautstärke nahm wieder ab, um nunmehr eine menschliche Stimme zu begleiten, die den Liedtext ungefähr im Takt zur Musik schmetterte.
    »Und Solomon Guillemard sprach mit Bedacht,
Ein Mann von höchstem Rang und Ehre,
›Die Nonnen flohen über Nacht,
wohl über Land und Meere.
Ich dien dem König, der König Gott,
Die Kirche dienet Gott und König …‹«
    »Großvater!«, brüllte Girlie.
    Die Stimme verebbte zusammen mit der Musik, und auf der Empore erhob sich langsam eine Gestalt. Es war ein in einen Samtvorhang gehüllter alter Mann, der durch eine mottenzerfressene Kosackenmütze größer wirkte.
    »Wer ruft so laut? Seht ihr nicht, dass ich am Dichten bin?«
    »Ein starkes Stück«, sagte seine Enkeltochter. »Ein Inspektor kommt. Das gibt entweder Ärger oder einen großen Auftritt. Ich bringe ihn ins Arbeitszimmer.«
    Schon wieder setzte sie sich in Bewegung – eine Frau, mit der schwer Schritt zu halten war, die aber zweifellos der Mühe wert war, wie Pascoe sich schnaufend eingestand.
    Das Arbeitszimmer war ein oktogonaler Raum, der wahrscheinlich einen der

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