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Der Schrei des Eisvogels

Der Schrei des Eisvogels

Titel: Der Schrei des Eisvogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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musste ein ziemlich ausgeglichenes Naturell und ein gesundes Selbstwertgefühl haben, um den Anforderungen eines solch eigenwilligen Talents bei der kleinen Schwester gewachsen zu sein, dachte Wield.
    Als sie aus der Galerie traten, hielt der junge Mann, der Wield schon am Vortag aufgefallen war, mit seinem Rad vor ihnen an.
    »Hallo, Jason«, sagte Kee gleichgültig. »Möchtest du etwas?«
    »Caddy, hab was für sie.«
    »Fürchte, die ist im Moment zu beschäftigt«, sagte Kee.
    Der Junge betrachtete sie mit einem seltsam richtungslosen Blick, den sie ebenso beharrlich erwiderte, ohne von der Haustür zu weichen.
    Wield, der den paramilitärischen Aufzug des jungen Mannes sowie das an der Querstange befestigte Gewehr musterte, sagte: »Hast du einen Waffenschein für dieses Gewehr, mein Junge?«
    »Ja«, sagte Toke, ohne ihn anzusehen. »Dann bis später.«
    Er fuhr schnell davon.
    »Warte!«, sagte Wield, doch Kee unterbrach ihn. »Ist schon okay, Sergeant. Er hat tatsächlich einen Waffenschein. Er hat vermutlich für alle seine Waffen einen.«
    »Alle …? Wie viele hat er denn?«
    »Ein ganzes Arsenal, wird jedenfalls im Dorf gemunkelt. Hab sie allerdings nie zu Gesicht bekommen, ich kann’s also nicht beschwören.«
    »Sie mögen den Burschen nicht, oder?«
    Sie zuckte die Achseln und sagte: »Er ist ein bisschen seltsam. Und er ist verrückt nach Caddy. Ich mag es nicht, wenn seltsame Typen nach meiner kleinen Schwester verrückt sind.«
    Schnellen Schrittes machten sie sich auf den Weg. Als die High Street anstieg, zeigte Kee auf eine schmale Einfahrt rechter Hand, direkt unterhalb der Kirche.
    »Da geht’s zur Corpse Cottage, wo Mr. Bendish wohnt. Von dort aus führt der Weg hinauf zum Pfarrhaus.«
    »Ach, wirklich?«, fragte Wield und hielt für einen Moment inne. »Liegt ziemlich versteckt.«
    »Wollen Sie es sich anschauen? Wir können zum Pfarrhaus hoch und von dort aus auf den Friedhof.«
    »Das Pfarrhaus liegt also auch da?«
    »Ja, nur weiter oben, auf gleicher Höhe wie die Kirche.«
    »Nein«, sagte Wield, »ich denke, wir gehen einfach den üblichen Weg. Die Wache spar ich mir für später auf.«
    Wenn ich keine Zivilistin im Schlepptau habe, deren scharfem Blick nichts entgeht, fügte er in Gedanken hinzu und begegnete im selben Moment ebenjenen scharfen Augen, die zu lächeln schienen, als ob er laut gesprochen hätte.
    Sie gingen den Hang hinauf, bis sie auf der Höhe des Kriegerdenkmals waren.
    Wield blieb stehen. Das Denkmal hatte die Form eines keltischen Kreuzes, mit der schlichten Inschrift
Den Gefallenen der Gemeinde Enscombe
, mit zwei Namenslisten in alphabetischer Reihenfolge und ohne militärischen Rang, eine für 1914–18, die andere für 1939–45.
    »Sie hatten am letzten Jahrestag des Waffenstillstands Ärger, nicht wahr?«, sagte er.
    »Ja. Als man sich zum Gottesdienst versammelte, wurde entdeckt, dass jemand Blut über das Kreuz gegossen hatte. Tierblut. Sie haben nach Jason Toke gefragt. Jason war’s. Das war allgemein bekannt.«
    »Toke?«, sagte Wield. »Er sieht nicht gerade wie ein Friedensaktivist aus.«
    »Sehr gut beobachtet«, sagte Kee. »Er hat, wie sein Äußeres nahelegt, eine Obsession für alles Militärische. Genau wie sein Bruder.«
    »Es gibt noch einen?«
    »Gab. Warren. Ein paar Jahre älter als Jason. Letzte Weihnachten haben sie ihn in Nordirland in die Luft gejagt. Seit damals ist Jason so seltsam. Zum Beispiel, als er wollte, dass der Gemeinderat Warrens Namen auf das Kriegerdenkmal setzt. Er hat sich furchtbar aufgeregt, als sie es nicht gemacht haben.«
    Wield überflog die Namensliste.
    »Da ist schon ein Toke. Zwei.«
    »O ja. Da sind alle drauf. Tokes und Wapshares, Hogbins und Guillemards, Digweeds und Halavants, all die alteingesessenen Familien. Ehrenliste oder Zeugnis der Sinnlosigkeit, wie man’s nimmt.«
    »Wie Toke es nahm, liegt auf der Hand«, sagte Wield. »Wieso ist er nicht zur Army gegangen?«
    »Vielleicht zieht selbst die Army irgendwo eine Grenze. Nein, das ist unfair. Es ist ebenso gut möglich, dass er seine Mutter nicht allein lassen wollte. Sie stehen sich sehr nahe.«
    »Wäre ja ein plausibler Grund«, sagte Wield. »Dann ist im Grunde das einzige, was Sie gegen Toke haben, dass er auf Ihre Schwester steht. Kann man ihm nicht verdenken.«
    Das war ehrlich gemeint. Auch wenn ihm das Sensorium für diese spezielle Wellenlänge fehlte, fiel es ihm nicht schwer, das Signal zu orten.
    »Ja«, sagte sie nicht ohne Stolz.

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