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Der Schrei des Eisvogels

Der Schrei des Eisvogels

Titel: Der Schrei des Eisvogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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jungen Frau in einem farbverklecksten Kittel, die in einer Innentür stand. Wield konnte noch volle, halbgeöffnete Lippen und riesige dunkle Augen unter einem Sturzbach tiefschwarzen Haars ausmachen, bevor sie sich umdrehte und er ihre Schritte eine Treppe hinaufeilen hörte.
    »Meine Schwester, Caddy«, sagte Kee. »Haben Sie Nachsicht. Sie verschwendet nicht viel Zeit auf Umgangsformen.«
    Die Schritte kehrten zurück, diesmal halb so viele, da sie jeweils zwei, drei Stufen auf einmal nahm. Und dann stand sie erneut in der Galerie, mit einem Skizzenblock und einem Bleistift bewaffnet.
    »Ich muss Ihr Gesicht festhalten, Sie haben doch nichts dagegen, oder? Es ist erstaunlich. Wohnen Sie hier in der Gegend? Ich würde Sie sehr gerne porträtieren, wären Sie interessiert?«
    Dabei huschte die ganze Zeit der Bleistift übers Papier.
    »Caddy, um Himmels willen!«, sagte Kee in jener Mischung aus Tadel und Stolz, mit der Eltern ihre frühreifen, vorlauten Kinder zurechtweisen. »Das ist Sergeant Wield. Wie’s aussieht, ist Constable Bendish verschwunden.«
    »Wahrscheinlich nur unterwegs, um Schafdiebe zu jagen oder so. Sergeant, okay, wenn Sie gerade einer heißen Spur folgen, sehe ich natürlich ein, dass Sitzungen ein Problem sein könnten, aber gegen ein paar Schnappschüsse haben Sie doch sicher nichts einzuwenden? Ich kann auch nach Fotos arbeiten, natürlich nicht dasselbe, aber wenigstens wollen sie sich nicht unterhalten oder in der Nase popeln. Einverstanden? Großartig, bin gleich wieder da.«
    Noch einmal lief sie in ein paar Sätzen die Treppe hinauf und wieder herunter.
    »Tut mir wirklich leid«, sagte Kee. »Sie müssen nicht, wenn Sie nicht wollen. Aber sie ist gut.«
    »Sind das ihre?«, fragte Wield, während er eine Auswahl an Aquarellen betrachtete. »Sehr hübsch. Sie hat einen Blick für Schafe, nicht?«
    »Nein, die nicht«, sagte Kee. »Die sind von Beryl Pottinger, unserer Schulleiterin. Sie verkaufen sich erstaunlich gut. Touristen nehmen sich gerne eine schöne Ansicht mit nach Hause. Das da oben sind Caddys.«
    Wield wandte sich um und sagte: »Ach so«, eine abgemilderte Variante für »verdammte Scheiße«, die ihm seine angeborene Höflichkeit wie Wortkargheit abverlangten. Von Mrs. Pottingers friedlichen ländlichen Szenen zu Caddy Scudamores aufgewühlten Landschaften mochte für einen Künstler nur ein kleiner Schritt liegen. Für einen Mann jedoch, der seine Wände mit viktorianischen Drucken von Gilbert-and-Sullivan-Figuren behängte, war es ein gewagter Sprung über ein hohes Kliff.
    Caddy war mit ihrem Fotoapparat zurück, der seinem eigenen Kopf zu folgen schien und mit minimalen Eingriffen von außen klickte, blitzte und sich weiterspulte. Allmählich wurde es Wield unbehaglich. Sowohl privat als auch beruflich hatte er schon lange den Instinkt, sich im Hintergrund zu halten, und dieses Maß an Aufmerksamkeit hatte zweifellos etwas Bedrohliches. Als die Kamera durch einen Camcorder ersetzt wurde, wusste er, dass es Zeit war für den Abgang.
    »Diese Statue. Ob Sie mir wohl zeigen können, wo sie steht?«, bat er Kee eindringlich.
    Sie sah erst auf die Kasse, dann in sein Gesicht, erbarmte sich und sagte, während sie die Rechenmaschine ausschaltete: »Warum nicht?«
    »Ich komm mit«, sagte Caddy. »Ich muss ihn haben, wenn er sich bewegt.«
    »O nein, das wirst du nicht«, bestimmte ihre Schwester. »Das hier ist ein Geschäft, schon vergessen?«
    »Was du nicht sagst«, gab Caddy schmollend zurück. Sie war, wie Wield mit seinem kritischen, neutralen Auge bemerkte, eine der wenigen Frauen, denen Schmollen gut zu Gesicht stand. Wenn sie ihre vollen Lippen schürzte, rundeten sie sich zu einem feuchten, rosa Trichter, in den ein Hetero wohl seine Seele hätte ergießen mögen.
    »Na ja, dann will ich die hier mal entwickeln«, sagte sie und verschwand noch einmal nach oben.
    »Caddy, du achtest auf die Türklingel, ja?«, rief Kee ihr nach, ohne jedoch eine Antwort zu bekommen.
    »Ich glaub, ich geb’s auf«, sagte sie achselzuckend zu Wield. »Wenn sie erst mal in ihre Dunkelkammer verschwindet, hört und sieht sie nichts mehr.«
    »Sie entwickelt also selber?«, fragte Wield.
    »O ja. Lassen Sie sich nicht von ihrer chaotischen Art täuschen. Wie viele junge Leute heutzutage bringt sie es fertig, mit einem Bein in der Boheme und mit dem anderen im Hightech-Zeitalter zu stehen, ohne dass man ihr den Spagat anmerkt.«
    Da war er wieder, dieser Stolz, unüberhörbar. Man

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