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Der Schrei des Eisvogels

Der Schrei des Eisvogels

Titel: Der Schrei des Eisvogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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mochte!
    In der Cottage knipste er den winzigen Fernseher an und sah nach, ob Bendishs unappetitliche Speisekammer eine Kanne Tee hergab. Tat sie, und noch dazu eine gute Sorte zum Aufbrühen. Der Junge mochte von Fast Food leben, aber wenigstens war er nicht zu Instanttee herabgesunken.
    Doch wozu war er tatsächlich herabgesunken?
    Der Gedanke traf ihn wie ein Hieb. Da saß er, mokierte sich über die Essgewohnheiten des Jungen, machte es sich in dessen Haus bequem, während die ganze Zeit …
    Die ganze Zeit was?
    Er wusste es nicht. Vielleicht gab es nichts zu wissen oder zumindest nicht mehr, als was mit einem ausführlichen Augenverdrehen über den Leichtsinn der Jugend und einem gehörigen Anschiss für den verlorenen Sohn enden würde.
    Zeit, das Thema ruhen zu lassen. Er saß mit seinem Tee auf dem uralten, doch sehr bequemen Sofa und widmete soviel von seiner Aufmerksamkeit wie nötig einer alternativen Comedy-Show. Sie war zweifelsohne alternativ, kam sie doch ohne all den Ballast von früher aus, wie zum Beispiel Lacherfolge.
    Nach einer Weile stellte er fest, dass seine Aufmerksamkeit nicht unbedingt sowohl seiner Augen als auch Ohren bedurfte, weshalb er die ersteren schloss. Und irgendwann hatte Gott, der selbst den Unwürdigen gnädig ist, mit ihm Erbarmen und hielt ihm seine göttlichen Hände auf die Ohren, so dass er sanft einschlief.
    Er wurde von einem schabenden Geräusch geweckt. Einen Augenblick lang hatte er keine Ahnung, wo er war, und selbst als es ihm allmählich dämmerte, war er immer noch so verwirrt, dass er die Geräuschquelle in der Kaminwand vermutete, durch die der Legende nach Susannah Hogbins Sarg hereingeplatzt war. Seltsamerweise empfand er bei dem Gedanken keinen Schrecken, sondern eine seltsam passive Neugier. Jeder hatte doch wenigstens eine klitzekleine übernatürliche Erfahrung verdient, bevor er selbst in den anderen Zustand überging. Er setzte sich im Sessel zurück, um die seine zu genießen, und war enttäuscht, als sich das Geräusch wiederholte, diesmal unzweifelhaft vorm Fenster.
    Er riss den Vorhang zurück und fand bestätigt, was Ärzte schon immer wussten, nämlich, dass die Lebenden viel erschreckender sind als die Toten.
    Edwin Digweeds feingliedriges Gesicht drückte sich gegen die Scheibe. Als er Wield sah, gestikulierte er herrisch Richtung Haustür.
    Wield rieb sich den Schlaf aus den Augen und machte auf.
    »Darf ich reinkommen?«, fragte der Buchhändler und ging am Sergeant vorbei. »Auch wenn es danach aussieht, ich bin kein Hausierer.«
    Was danach aussah, war eine Ledertasche mit Reißverschluss, die er neben sich abstellte. Wield machte den Fernseher aus, wo gerade ein anämischer, androgyner Mann mit Glupschaugen und einem Körperbau, den aller Wahrscheinlichkeit nach eine stärkere Frau wie einen Stock zerbrechen konnte, seine Bewunderung für Renoirs
Die Badenden
zum Ausdruck brachte.
    »Was kann ich für Sie tun, Sir?«, fragte er wenig begeistert und hoffte, dass seine Anwesenheit in Corpse Cottage nicht das halbe Dorf dazu brachte, ihn wie den örtlichen Bobby zu behandeln.
    »Zunächst einmal können Sie meine Entschuldigung entgegennehmen.«
    »Hä?«
    »Nach unserer letzten Begegnung kam mir der Gedanke, dass die eine oder andere meiner Eigenheiten jemandem, dem meine Art fremd ist, möglicherweise, wie soll ich es ausdrücken, als Unhöflichkeit erscheinen könnte.«
    Wield, der es auch anders hätte ausdrücken können, sagte nichts, und Digweed fuhr fort: »Und als ich nach der Schulversammlung erfuhr, dass Sie hier übernachten, musste ich daran denken, wie Sie allein in einem fremden Haus sitzen, ohne zu wissen, was mit Ihrem jungen Kollegen passiert ist, auch wenn ich sicher bin, dass ihm nichts Schlimmes passiert ist, trotzdem habe ich gedacht, als Friedensangebot und verspäteter Willkommensgruß in unserem Dorf …«
    Er machte den Reißverschluss der Tasche auf und zog ein mit einem Schutzumschlag versehenes Exemplar von
An den Ufern der Een
heraus. Die Illustration auf dem Einband war dem Gemälde von der Scarletts-Bucht entnommen, das über Digweeds Bett hing, und trug immer noch sichtbar, wenn auch sehr verblasst, die Initialen seines Großvaters, R. D.
    »Das ist wirklich nett«, sagte Wield verblüfft. »Wieviel …?«
    »O nein, ein Willkommensgeschenk, wie gesagt. Außerdem hab ich mich gefragt, ob ich Sie überreden könnte, mit mir ein Schlückchen zu trinken.«
    Diesmal zog er eine Flasche Jim Bean aus der

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