Der Schrei des Eisvogels
keineswegs
perfectus,
kann ich zu meiner Freude sagen
.
Vollkommenheit ist wider die Natur, Sergeant, da sie weder Entwicklung noch Niedergang zulässt. Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, dass jene politischen Parteien und Religionen mit der klarsten Vorstellung von einer vollkommenen Gesellschaft den größten Schaden anrichten? Lassen Sie erst mal die Idee zu, der Mensch ließe sich vervollkommnen, und im Nu muss der Zweck dafür herhalten, jede Menge Schmerz und Leid auf dem Weg dahin zu rechtfertigen. Außerdem würden wir beide arbeitslos. In einer vollkommenen Gesellschaft gäbe es keine Kriminalität, und es hätte auch niemand den Wunsch, über die unvollkommene Vergangenheit zu lesen! Auf die Unvollkommenheit also!«
Sie nahmen beide einen großen Schluck.
»Um auf Ihre Frage zurückzukommen, Sergeant, ich bin keineswegs pensioniert. Ich vermute, dass Sie sich von meinem Silberschopf und vielleicht auch meinem Beruf haben täuschen lassen. Auch Blüten können schneeweiß sein. Was glauben Sie, wie alt ich bin?«
»Nee, so leicht kriegen Sie mich nicht«, sagte Wield.
»Wer Sie kriegen will, muss vermutlich früher aufstehen, Sergeant. Siebenundfünfzig. Sie sind mit einem Gesicht gesegnet, das nicht viel verrät, aber ich wette, Sie haben mich eher Richtung siebenundsechzig geschätzt?«
Wield, dem noch niemand nahegelegt hatte, sein Gesicht als einen Segen zu betrachten, nickte schuldbewusst.
»Machen Sie sich nichts draus. Ich wünschte, ich könnte mit einem hübschen Wintermärchen aufwarten, wie es dazu kam, dass mein Haar in einer einzigen Nacht ergraute, aber in Wahrheit war es ganz allmählich, nur dass es erstaunlich früh angefangen hat. Es sind keine Särge durch die Wand gekommen, die die Sache beschleunigt hätten. Apropos, macht es Ihnen eigentlich nichts aus, in einem Haus wie diesem hier zu übernachten?«
»Nein, nicht einmal, bevor ich das Zeug hier getrunken hab«, sagte Wield. »Hab mich hier sogar vom ersten Augenblick an wohl gefühlt. Es hat was.«
»Ich weiß genau, was Sie meinen. Mir geht’s nicht anders.«
»Nun, dann haben wir wenigstens etwas gemeinsam«, sagte Wield.
»Noch etwas«, sagte der Buchhändler und hielt die Flasche hoch, um ihre Gläser erneut zu füllen. »Könnte es wohl sein, dass es Sie erstaunt, etwas mit mir gemeinsam zu haben?«
»Etwas Gemeinsames ist leicht zu finden, Sir, nur dass es, wie dieser Anger hier im Dorf, der allen gemeinsam gehört, oft genug wieder neuen Grund zum Streiten gibt.«
Digweed runzelte die Stirn und sagte: »Wenn wir uns schon streiten sollen, wäre es mir lieber, wenn Sie mich nicht immer mit Sir anreden würden. Das verschafft Ihnen einen solchen Vorteil.«
»Ärgern Sie sich nicht«, sagte Wield. »Oft ist es das einzige Schimpfwort, das ein armer Cop gegenüber denen, die ihm überlegen sind, riskieren kann.«
»Komme ich Ihnen denn so überlegen vor? Das ist nicht meine Absicht.«
»Das macht es noch schlimmer.«
»Ja, vermutlich. Tut mir leid. Falls es hilft, auch auf die Digweeds ist häufig herabgesehen worden.«
»Von den Guillemards, meinen Sie? Ihr Großvater, oder?«
»Du lieber Himmel, sind Sie Hellseher?«
»Nur Detective«, sagte Wield, nicht ganz ohne Stolz. »Was er zu Beginn seines Tagebuchs darüber sagt, wie sie Geburten feiern. Ziemlich sarkastisch. Hat mich ein bisschen an Sie erinnert.«
»Das nehme ich als Kompliment«, sagte Digweed. »Aber fahren Sie fort. Zeigen Sie, wie man so sagt, was Sie drauf haben.«
Derart herausgefordert, schob Wield seine Antwort eine Weile auf, indem er an seinem Glas nippte, während seine Gedanken rasten. Unwillkürlich berührte er das Buch von Digweeds Großvater, als könne er, wie ein Medium, davon ein paar hilfreiche Vibrationen auffangen. Dann heftete er seinen Blick auf die Illustration des Schutzumschlags.
»R. D.?«, sagte er. »Dieselben Initialen wie auf diesem Bild von Edwina, der Tante des Squires, richtig? Ihr Großvater hat es gemalt. Als er noch um einiges jünger war … Und er war hinter Edwina her. Aber er ist abgeblitzt … nicht bei Edwina. Bei der Familie. Befanden ihn nicht für gut genug … Daher seine spitze Bemerkung darüber, wie sie ihre Frauen würdigen … Schließlich hat er jemand anderes geheiratet, viel später, er muss so Ende vierzig gewesen sein, als Ihr Vater zur Welt kam … Aber er hat sie nie vergessen, deshalb hat er Ihren Vater Edwin genannt, nach seiner alten Liebe!«
Er konnte am Gesichtsausdruck des
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