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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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hatten, war Yoba auf dem Beifahrersitz eingenickt. Dabei war ihm Adaeke im Traum erschienen. Sie hatte ihr bestes Kopftuch getragen und ihm vom Rand des Fußballfeldes aus zugejubelt, weil er ein Tor geschossen hatte. Dann waren Adaeke, sein Bruder und er mit einem silbernen Auto ohne Dach durch eine Stadt gefahren. Die Leute hatten ihnen freundlich zugewinkt, und wie Yoba verwundert festgestellt hatte, gab es nirgendwo hohe Mauern oder vergitterte Fenster. Leider hatte ihn ein Schlagloch genau in diesem Moment unsanft in die Wirklichkeit zurückgeholt.
    Auch jetzt machte die unebene Straße das Schreiben fast unmöglich. Yoba klappte verärgert sein Buch zu. Dann streckte er seine schmerzenden Glieder.
    »Was kritzelst du da eigentlich die ganze Zeit?«, fragte Osondu. Er stützte sich mit den Ellbogen auf das Lenkrad und blickte mit müden Augen auf die kurvenreiche Straße. Seit ihrem letzten Stopp an der Tankstelle waren Stunden vergangen und er hatte nicht ein einziges Wort von sich gegeben.
    »Ich führe Tagebuch«, entgegnete Yoba stolz. »Das mache ich für meinen Bruder. Für die Zeit, wenn er wieder gesund ist und lesen gelernt hat.«
    Chioke schlief mittlerweile zusammengerollt im Fußraum. Er hatte den Kopf auf seine neuen Turnschuhe gebettet und lächelte im Schlaf.
    Osondu beäugte Yoba argwöhnisch von der Seite. Allmählich beschlich ihn der Verdacht, dass mit den beiden Jungen, die Anthony ihm aufgehalst hatte, etwas nicht in Ordnung war. Niemand in Afrika verschwendete seine Zeit mit Tagebuchschreiben.
    »Darf ich dich mal was fragen?«, erkundigte sich Yoba, während er die letzte Maniokteigkugel in sich hineinstopfte. Leider hatte er an der Tankstelle nicht mehr davon kaufen können. »Du bist doch Lastwagenfahrer und kommst viel rum«, nuschelte er mit vollem Mund.
    »Hm«, machte Osondu. Die abschüssige Straße erforderte seine ganze Konzentration. Seit geraumer Zeit ging es nur noch in steilen Serpentinen bergab.
    »Warst du auch mal am Meer?«, wollte Yoba wissen.
    »An welchem Meer?«, knurrte Osondu. Die Bremsen rochen bereits verdächtig nach verbranntem Gummi.
    »Am Mittelmeer.« Yoba sah Osondu gespannt an. »Das Meer zwischen Afrika und Europa. Warst du mal da?«
    »Kann schon sein.«
    Yoba richtete sich auf. »Und?«, platzte es aus ihm heraus. »Wie sieht es aus? Ist es schön?«
    »Wieso willst du das wissen?«
    »Ach, nur so«, wiegelte Yoba ab, als er Osondus misstrauischen Seitenblick bemerkte. »Wenn ich erwachsen bin und Arbeit habe, fahre ich vielleicht mal hin und gucke es mir an«, erklärte er. Besser, er war auf der Hut.
    Osondu bremste und lenkte den Tanklaster mit Schweißperlen auf der Stirn um die nächste abschüssige Kurve.
    »Es ist besser, man bekommt das Meer erst gar nicht zu Gesicht«, sagte er nach einer Weile. »Es kostet zu viele das Leben.«
    Plötzlich drang ein ohrenbetäubender Lärm aus dem Motorraum zu ihnen herauf. Der bis zum Rand gefüllte Tanklaster geriet ins Schlingern. Er schrammte mit der Außenhülle an der Felswand entlang, Funken sprühten und nur mit größter Mühe brachte Osondu das Ungetüm zum Stehen.
    Er umfasste den Schaltknüppel mit beiden Fäusten und versuchte ihn zu bewegen. Vergeblich. Osondu stellte den Motor ab und stieg aus. Dann robbte er mit der Taschenlampe unter den Tanklaster. Nach wenigen Minuten kam er wieder hervorgekrochen.
    »Und, ist es sehr schlimm?«, fragte Yoba vorsichtig.
    Osondu knipste die Taschenlampe aus, ließ sich an den Vorderreifen gelehnt auf den Boden sinken und verbarg sein Gesicht.
    »Das Getriebe ist kaputt«, sagte er irgendwann mit tränenerstickter Stimme. »Ich kann euch nicht bis nach Kano bringen.«
    »Dann warten wir eben, bis jemand ein neues Getriebebringt«, erwiderte Yoba und deutete aufgeregt den Berg hinauf. »Sieh nur!«, rief er. »Da kommt doch schon Hilfe! Ein Laster!«
    Über ihnen am Berghang tastete sich ein mit Ziegen beladener Lastwagen die kurvenreiche Straße herab.
    »Für Hilfe ist es zu spät.« Osondu wischte sich mit der Handfläche übers Gesicht. Er hatte sich wieder gefasst. »Ich habe kein Geld für die Reparatur.«
    »Und was ist mit dem Öl, das du geladen hast?«
    »Wenn ich es nicht rechtzeitig abliefere, muss ich Strafe zahlen. Für jede einzelne Stunde. Aber das ist jetzt auch schon egal. So oder so – ich bin am Ende. Ihr müsst sehen, wie ihr ohne mich weiterkommt.«
    Yoba schwieg. Ihm wurde klar, dass mit dem Getriebe auch die Existenz des Mannes

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