Der Schrei des Löwen
abschwatzen.
»Du passt auf ihn auf!«, sagte er zu Chioke. »Ich bin gleich zurück!«
Fassungslos beobachtete Yoba, wie sein Bruder den blinden Bettler daraufhin an die Hand nahm und behutsam zurück zum Autowrack führte. Chioke schien keinerlei Ekel vor dem Blinden mit dem grässlichen Hautausschlag zu empfinden.
Wenig später kehrte Yoba mit dem Essen zurück. Der noch verschlafene Koch hatte ihn erst verscheuchen wollen, aber dann hatte Yoba ihm einen seiner Dollarscheine unter die Nase gehalten. Der Mann hatte ihn von allen Seiten geprüft und schließlich ein mageres, kaltes Hühnchen vom Vortag, ein bisschen Maniokteig und eine überreife Melone herausgerückt. Auf dem Markt in Aba hätte Yoba für das gleiche Geld einen ganzen Gemüsestand kaufen können.
Joseph, so hieß der blinde Bettler, stürzte sich auf das zähe Hühnchen, als hätte er noch nie etwas Köstlicheres zwischen die Zähne bekommen. Yoba und Chioke ließen ihm den Vortritt und begnügten sich mit der Melone und der Hälfte des Maniokteigs. An dem mageren Hühnchen war sowieso nicht viel dran.
Voller Ungeduld wartete Yoba, bis der Bettler aufgegessen hatte. Ihm brannten tausend Fragen auf der Zunge. Aber Joseph ließ sich Zeit. Er lutschte endlos auf den bereits blitzblank abgenagten Knochen herum und sein entstelltes Gesicht verriet dabei einen Zustand höchster Verzückung.
Yoba hielt es nicht länger aus. »Jetzt sag schon: Wie weit ist es noch?«, drängte er.
»Wohin?« Joseph leckte sich die Finger.
»Nach Italien natürlich!«, stöhnte Yoba. »Nach Europa!«
»Aha, ihr wollt also nach Europa. Wie alt seid ihr überhaupt?«, fragte er.
»Ich bin fast siebzehn und mein Bruder ist zwölf.« Yoba platzte fast vor Ungeduld. »Also: Wie weit ist es noch?«
»Die Reise nach Europa ist gefährlich«, erwiderte Joseph ausweichend. »Das ist nichts für Kinder. Besser, ihr kehrt zurück in den Süden.«
Yoba war überrascht. »Woher weißt du, dass wir aus dem Süden kommen?«
»Das höre ich an deinem Akzent«, kicherte Joseph. Er klang ein wenig verrückt. »Aber dein Haussa ist wirklich gut. Ich war mal Lehrer, musst du wissen.« Er drehte den Kopf in Chiokes Richtung, der aufmerksam zuhörte. »Ist dein Bruder stumm?«, wollte er wissen.
»Nein«, sagte Yoba ungehalten. »Er redet nur nicht viel. Und jetzt erzähl uns endlich, was du weißt!«
»Langsam, mein junger Freund! Langsam!« Joseph rieb sich seinen Bauch und rülpste. »Aber du hast Recht. Geschäftist Geschäft. Ich erzähle euch alles, was ich über Europa weiß.«
Wie Yoba erfuhr, war Joseph in seinem früheren Leben Englischlehrer in Liberia gewesen. Als seine Verlobte – ebenfalls eine Lehrerin – zwischen die Fronten des neu entflammenden Bürgerkriegs geriet und vor ihrer Schule erschossen wurde, entschied er sich wie viele seiner Landsleute zur Flucht. Joseph schaffte es bis nach Italien. Bei seinem ersten Aufenthalt arbeitete er einen Sommer lang als Bauarbeiter. Zusammen mit anderen Afrikanern baute er Ferienanlagen und Hotels, aber dann verriet sie ihr sizilianischer Chef an die Behörden, weil er den ausstehenden Lohn nicht zahlen wollte. Drei Tage später waren sie mit dem Flugzeug zurück nach Liberia gebracht worden. Doch Joseph hatte sich von diesem Rückschlag nicht entmutigen lassen. Nachdem er erneut genug Geld beisammenhatte, versuchte er es wieder. Dieses Mal geriet jedoch das ausrangierte Fischerboot, das ihn von Nordafrika aus an die italienische Küste bringen sollte, in einen Sturm.
Yoba hing an Josephs Lippen und verschlang jedes einzelne Wort. »Und wie seid ihr gerettet worden?«, fragte er gespannt.
»Gerettet?« Joseph kicherte. »Ich bin der einzige Überlebende!« Er zeigte mit dem Finger auf seine entstellten Augäpfel. »Hat mich nur meine Augen gekostet. Die Sonne und das Salzwasser haben sie für immer zerstört.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Nein, gerettet ist etwas anderes.«
»Und wie bist du dann hierher nach Kano gekommen?«, fragte Yoba. »Ich meine, ohne etwas sehen zu können?«
»Nachdem sie mich in ihrem Krankenhaus behandelt haben, haben sie mich in ein Flugzeug gesetzt und hierher nach Kano geflogen.«
»Aber du kommst doch aus Liberia!«, wunderte sich Yoba. »Wieso schicken sie dich dann nach Nigeria?«
»Schwarz ist eben schwarz«, sagte Joseph traurig. »Ich merke schon, ihr wisst nicht viel über Europa und die Weißen, oder?«
Yoba schwieg betroffen. Als blinder Bettler in einem fremden Land
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