Der Schrei des Löwen
zwischen den Unterwasserfelsen entdecken. Das war mit Abstand das beste Vater-Sohn-Ding aller Zeiten. Auch ohne Vater.
Während die Gruppe sich noch im flacheren Wasser aufhielt, schwamm Julian neugierig zu der Felskante, hinter der es steil nach unten ging. Sofort spürte er den eisigen Griff der Tiefe und paddelte hastig zurück, um sich der Gruppe wieder anzuschließen. Aber die schien gerade hinter einem der Felsen verschwunden zu sein. Er griff nach dem Finimeter, das an seiner Seite baumelte. Der Zeiger auf der runden Skala war noch weit vom roten Bereich entfernt. Seine Pressluftflasche war halb voll. Also beschloss er die Klippen auf eigene Faust zu erkunden. Irgendwo würde er schon auf Giuseppe und den Kurs stoßen. Plötzlich erregte etwas Dunkles seine Aufmerksamkeit. Es klemmte etwas tiefer unter einem mit Algen und Seeigeln überwucherten Gesteinsbrocken.
Julian ließ etwas Luft aus der Tauchweste und sackte nach unten. Neugierig paddelte er näher an das rätselhafte Objekt heran. Der Felsen hielt es am Meeresgrund gefangen und es schaukelte in der Unterwasserbrandung sanft hin und her. Als Julian nahe genug herangetaucht war, stieg die nackte Angst in ihm auf. Es war die Leiche eines dunkelhäutigen Mannes.
Julian ruderte panisch zurück, wobei ihm der Lungenautomat aus dem Mund glitt. Er schluckte Salzwasser und schoss, so schnell er konnte, zurück an die Wasseroberfläche, wo er sich die Maske vom Kopf riss und die Lunge aus dem Leib hustete. Etwas entfernt standen Giuseppe und die übrigen Kursteilnehmer im hüfthohen Wasser. Sie hatten wohl mittlerweile bemerkt, dass er fehlte. Julian versuchte ihnen etwas zuzurufen, aber der Husten zerriss ihm den Hals und er spuckte erneut Salzwasser. Am Strand brieten die Feriengäste in ihren Strandliegen. Zu ihren Füßen bauten Kinder Sandburgen und auf dem Beachvolleyball-Feld tobte ein hart umkämpftes Match. Niemand schien Notiz von Julian zu nehmen. Dafür kam Giuseppe nun eilig herangepaddelt.
»Wo warst du?«, wollte er von Julian wissen. Er konnte seinen Zorn nur mit Mühe im Zaum halten. »Die Gruppe muss immer zusammenbleiben! Verdammt noch mal, ich trage die Verantwortung für euch!«
Statt einer Antwort hustete Julian erneut. Zusammen schwammen sie zurück zum Strand. Kaum hatte Giuseppe ihm die Pressluftflaschen abgenommen, wurde Julian speiübel. Er drehte sich zur Seite und übergab sich in den Sand. Erst jetzt hoben sich in den Strandliegen die ersten Köpfe und starrten neugierig zu ihm herüber.
»Da … da ist eine Leiche im Wasser«, brachte Julian schließlich heraus. Seine Kehle brannte wie Feuer. »Zw… zwischen den Felsen. Ein Schwarzer.«
»Ein Schwarzer?« Plötzlich war Giuseppes Zorn wie weggeblasen. Er klang besorgt.
Julian nickte.
»Verdammt!«, fluchte Giuseppe. »Nicht schon wieder! Du rührst dich nicht von der Stelle!«, befahl er Julian. Danach watete er zurück ins Meer. Als ihm das Wasser bis zur Brust reichte, setzte er seine Brille auf und tauchte mit einem Flossenschlag ab.
Julian blieb einfach am Strand sitzen. Er war viel zu durcheinander, um einen klaren Gedanken zu fassen. Dann stach ihm ein in der Brandung schwimmender Gegenstand ins Auge. Das merkwürdige Ding wurde von den Wellen beharrlich an den flachen Strand geworfen und vom ablaufenden Wasser wieder mit zurückgerissen, als wolle ihn das Meer nicht freigeben. Julian kroch darauf zu und fischte das merkwürdige Ding aus der schäumenden Gischt. Zu seiner Überraschung handelte es sich um ein kleines, in mehrere Lagen Klarsichtfolie gewickeltes Notizbuch.
14.
Yoba kauerte mit angezogenen Beinen auf dem Beifahrersitz und schrieb in sein kleines Tagebuch. Die Straße ringelte sich wie eine schwarze Schlange über die ausgedörrte Hochebene. Seit Stunden krochen sie nun schon über das endlose Plateau. Zu Yobas Linken versank die glühende Sonne allmählich hinter den kargen Bergen. Die Schatten des Tanklasters und der wenigen Bäume wurden bereits länger und länger. Bald würde es dunkel werden und er hoffte inständig, Osondu würde einen weiteren Pausenstopp einlegen. Yobas dreckiges T-Shirt klebte an seinem Körper und mittlerweile kam er fast um vor Durst. Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Reise in den Norden verspürte er ein leichtes Unbehagen. Wenn es jetzt schon so unerträglich heiß und trocken war, wie mochte es dann erst in der großen Wüste werden?
Nachdem sie am Mittag an einer Tankstelle eine Pause eingelegt und etwas gegessen
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