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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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Schlafwandler strebten sie zur nahe gelegenen Moschee. Yoba bestaunte die fremdartige Szenerie. Bereits jetzt war ihre Flucht nach Europa ein einziges Abenteuer. Noch bereute er nichts. Und was sollte schon passieren? Big Eagles Dollars machten sie reich und Reichen passierte bekanntlich nie etwas. Sie konnten jedes Problem mit Geld regeln.
    Yoba hatte keinen blassen Schimmer, wohin man als Nächstes fahren musste, wenn man nach Europa wollte. Er wollte bis Sonnenaufgang warten und sich dann durchfragen, aber vorher würde er sich um ein Frühstück und Kleidung kümmern müssen. Die Sachen, die sein Bruder und er am Leib trugen, waren schon in Aba kaputt und dreckig gewesen. Nach der Fahrt auf dem Ziegenlaster verströmten sie darüber hinaus einen unerträglichen Gestank.
    Yoba spähte in das ausgeschlachtete Auto, nur für den Fall, dass sich Ratten darin befanden. Dann krabbelte er zögernd hinein. Zu seinem Entsetzen fühlte er im Inneren etwas Weiches. Es knurrte.
    Yoba sprang erschrocken zurück, gleichzeitig riss er seinen Bruder von dem Autowrack weg. Aus dem Schrotthaufen zwängte sich eine schemenhafte Gestalt ins Freie.
    »Wer ist da?«, schrie die Kreatur. Sie reckte den Kopf wie ein Tier, das Witterung aufnimmt.
    Yoba presste instinktiv die Tüte mit der Gelddose an seinen Körper. Im Mondlicht konnte er erkennen, dass die Haut des Bettlers über und über mit Geschwüren bedeckt war. Aber noch mehr erschreckten ihn seine leblosen Augen. Der Mann war blind.

15.
    Der blinde Bettler drehte sich im Kreis. Er spürte die Anwesenheit der Jungen, wusste aber nicht, wo sie sich befanden.
    »Wer … wer ist da?«, stammelte er auf Haussa, der Sprache, die hier im Norden gesprochen wurde. Als ihm niemand antwortete, versuchte er es auf Englisch. »Bitte … Bitte tut mir nichts!«, flehte er.
    Yoba schluckte. Er hatte ihn schon beim ersten Mal verstanden, denn sein muslimischer Freund Akim hatte ihm etwas Haussa beigebracht.
    »Wir wollen dir nichts tun!«, antwortete er. »Wir wollten uns nur ein wenig ausruhen.«
    Offenbar war das Autowrack das Zuhause des Blinden und Yoba konnte sich gut ausmalen, welche grausamen Spiele die Kinder aus der Nachbarschaft mit dem wehrlosen Mann trieben.
    »Das Auto ist besetzt!«, blaffte der Blinde. Er schnupperte in Yobas Richtung und rümpfte die Nase. »Ihr stinkt nach Ziege! Wie viel seid ihr?«
    »Nur mein Bruder und ich«, erwiderte Yoba. »Wir sind gerade erst angekommen. Genau genommen sind wir auf der Durchreise.«
    Der Mann schien zu spüren, dass die Jungen keine unmittelbare Gefahr darstellten, und entspannte sich. »Und wohin geht die Reise, wenn man fragen darf?«
    »Italien!«, antwortete Chioke wie aus der Pistole geschossen.
    Yoba sah ihn verblüfft an. Woher sein Bruder das Ziel ihrer Reise kannte, war ihm ein Rätsel. Der Blinde brach hingegen in ein eigentümliches Gegacker aus.
    »Italien!«, krächzte er. »Geht da bloß nicht hin!«
    »Warst du etwa mal da?«, fragte Yoba.
    »Sogar zweimal!« Der Bettler machte eine wegwerfende Handbewegung. »Beim ersten Mal haben sie mich nur abgeschoben, beim zweiten Mal fast ein halbes Jahr eingesperrt.«
    Dass einige Auswanderer wieder zurückgeschickt wurden und andere nicht, wusste jeder. Die genauen Gründe dafür waren aber schleierhaft. Wahrscheinlich hatten einige zu wenig Geld gehabt, um die weißen Polizisten zu bestechen.
    »Wenn du schon mal in Italien warst, weißt du sicher, wie man da hinkommt.« Yoba versuchte sich seine Aufregung so wenig wie möglich anmerken zu lassen. »Ist es von hier aus noch sehr weit?«
    Statt zu antworten, kratzte sich der Bettler ausgiebig an seinem verschorften Unterarm. »Habt ihr etwas zu essen?«, fragte er plötzlich. »Ich habe schon ewig nichts mehr gegessen.«
    Yoba überlegte nicht lange. »Hör zu«, schlug er vor. »Sobald es hell genug ist, besorge ich uns etwas zum Frühstück.Und du erzählst uns, wie man nach Europa kommt. Einverstanden?«
    Der Bettler horchte auf. »Habt ihr denn Geld?«
    »Lass das nur unsere Sorge sein!«, entgegnete Yoba schnell. »Also, was ist? Gilt die Abmachung?«
    Der Blinde nickte in ihre Richtung. »Mit vollem Bauch erzähle ich euch alles, was ihr hören wollt!«, kicherte er.
    Yoba sah die dunkle Straße entlang. Nicht weit von ihnen entfernt entdeckte er eine einfache Garküche, in der bereits Licht brannte. Anscheinend war der Koch trotz der frühen Morgenstunde schon bei der Arbeit und mit ein wenig Glück konnte er ihm etwas

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