Der Schrei des Löwen
zerbrochen war. Der Tanklaster hatte Osondu und seine Familie ernährt. Jetzt stand er vor dem Nichts. Nachdenklich beobachtete Yoba den näher kommenden Laster. Er war nur noch eine Kurve über ihnen. Man konnte bereits seine quietschenden Bremsen hören.
»Wie weit ist es denn noch bis Kano?«, fragte er.
»Morgen früh wären wir da gewesen«, entgegnete Osondu müde.
Yoba kletterte zurück in den Tanklaster, holte die unter dem Sitz versteckte Gelddose hervor und entnahm ihr eine Handvoll Dollarscheine.
Währenddessen kroch draußen der Ziegenlaster mit qualmenden Bremsen an ihnen vorbei. Der Fahrer lehnte sich aus dem Fenster und grüßte Osondu.
»Allah sei mit dir, mein Freund!«, rief er. »Hast du ein Problem? Soll ich dir jemanden aus der Stadt schicken?«
»Nein«, winkte Osondu zurück. »Damit werde ich alleine fertig.«
Dann war der Laster auch schon vorbei. Yoba durfte keine Zeit verlieren.
»Das ist für die Reparatur!«, sagte er und drückte Osondu schnell die fünfhundert Dollar in die Hand, die er aus der Dose abgezählt hatte. »Und damit dein kranker Sohn wieder gesund wird!«
Osondu starrte auf das viele Geld in seinen Fingern. »Aber … woher …?«
»Nimm es einfach und frag nicht!«, sagte Yoba. Er packte Chioke am Arm und zog ihn hinter sich her. »Und grüß Anthony von uns!«, rief er über die Schulter.
Dann rannte er mit seinem Bruder hinter dem langsam und vorsichtig fahrenden Viehtransporter her. Schon in der nächsten Kurve hatten sie ihn eingeholt. Ohne dass der Fahrer etwas davon bemerkte, kletterten sie an den Metallstangen hoch und schlüpften zwischen die Ziegen. Die meckerten zwar über die zweibeinigen Eindringlinge, aber nach einiger Zeit hatten sie sich an die merkwürdigen Gäste gewöhnt und dösten weiter vor sich hin. Wenn dieser elende Gestank nicht gewesen wäre, hätte es fast gemütlich sein können, fand Yoba und machte es sich mit seinem Bruder im Stroh bequem.
Zu seiner Freude sollte Osondu Recht behalten. Nachdem sie die Berge endlich hinter sich gelassen hatten, war es nicht mehr weit bis Kano. Trotzdem war es bereits tiefste Nacht, als sie das Ortsschild passierten und in die Stadt einfuhren. Der Viehlaster rumpelte durch ein endloses Meer aus geduckten Lehmbauten. Es brannten kaum Lichter. Yoba kletterte auf die Metallbrüstung und sog die Luft ein. Kano war mindestensdreimal so groß wie Aba. Und es roch auch ganz anders. Ihm wurde mulmig zu Mute. Fremde Städte waren gefährlich. Besonders bei Nacht. Mit Unbehagen dachte er daran, wie Chioke und er nach Aba gekommen waren. Es hatte Wochen gedauert, bis sie sich ausgekannt hatten. Als der Ziegenlaster von der Hauptstraße in eine unasphaltierte Seitenstraße einbog, fällte er eine Entscheidung.
»Komm, wir steigen ab!«, sagte er. Er half Chioke auf die Brüstung, und als der Laster wegen einem Krater in der unbefestigten Straße bremsen musste, sprangen sie ab. Nachdem sie sich wieder aufgerappelt und den Staub abgeklopft hatten, blickte sich Yoba um. Außer ein paar abgemagerten, streunenden Hunden war niemand auf der Straße. Alles lag im Dunkeln.
»Besser, wir suchen uns einen Platz und warten, bis es hell wird!«, flüsterte er Chioke zu. Sein Bruder schien ihn verstanden zu haben, denn er zeigte auf das Gerippe eines ausgeschlachteten Autos. Seine Umrisse zeichneten sich deutlich gegen die helleren Lehmwände der Häuser ab.
»Gute Idee!«, lobte Yoba seinen Bruder. In diesem Augenblick hallte eine megafonverstärkte Stimme durch die schlafende Stadt. Chioke klammerte sich erschrocken an seinen Bruder.
»Das ist nur der Muezzin. Er ruft zum Morgengebet«, beruhigte Yoba ihn. »Das ist normal. Hier im Norden sind alle Leute Moslems. Sie beten zu Allah.«
Dass er sich ein wenig mit dem Islam auskannte, verdankte Yoba seinem Freund Akim. Akim war vom Stamm der Haussa und Moslem. In der Schule hatten sie immer nebeneinandergesessen. Im Nigerdelta, aus dem Yoba kam, waren Moslemsselten. Die Mehrzahl in seinem Heimatdorf waren Christen gewesen. So wie er selbst. Allerdings verehrten fast alle hinter dem Rücken des Pfarrers die alten Ibo-Götter wie Ala, die mächtige Erdgöttin, oder den Himmelgott Chi. So gingen sie auf Nummer sicher. Auf der einen Seite besuchten sie jeden Sonntag brav die Kirche, auf der anderen beteten sie heimlich zu den afrikanischen Göttern.
Kaum war der fremdartige Singsang des Muezzins verklungen, verließen die ersten Gläubigen ihre Häuser. Wie
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