Der Schrei des Löwen
Vater zu.
Sein Vater kritzelte ungerührt auf seinem Klemmbrett herum.Am Rand zeichnete er sogar kleine Geräteskizzen. Ingenieur bleibt eben Ingenieur, dachte sich Julian im Stillen.
»Du machst das doch nur, weil Mama es gut findet, wenn wir mal was zusammen unternehmen«, begann er erneut.
»Na und?« Sein Vater hob den Kopf und lauschte aufmerksam den Ausführungen des Tauchlehrers. Zur allgemeinen Anschauung hielt Giuseppe ein Finimeter in die Höhe. Die Skala informierte den Taucher über den Inhalt seiner Pressluftflasche.
Julian ließ nicht locker. »Aber du hast doch schon beim Schnorcheln Angst zu ertrinken. Und in Aufzügen kriegst du Platzangst.«
»Das lass mal meine Sorge sein«, erwiderte sein Vater.
Julian wurde das Gefühl nicht los, sein Vater zog das Ganze nur durch, um vor ihm nicht als Feigling dazustehen. In Wahrheit litt er Höllenqualen. Seine Mutter hatte ihn in eine wirklich unangenehme Lage manövriert.
Als die Theorie abgehakt war, begann der praktische Teil. Unter großem Tohuwabohu legten sie ihre Ausrüstung an und dann ging es endlich an den Strand.
Giuseppe führte seine Schüler wie eine Schar Entenküken ins seichte Wasser und wie alle anderen watschelte sein Vater mit den Flossen an den Füßen hinterher. Aber dann passierte es doch. Kaum umspülten die ersten Wellen seine Knöchel, wurde er ohnmächtig.
Julian riss sich die Maske vom Kopf und kniete sich mit der Pressluftflasche auf dem Rücken neben seinen Vater. Giuseppe war sofort bei ihnen.
»Was ist mit ihm?«, fragte er, während er Julian dabei half, seinen Vater zurück auf den Strand zu ziehen.
»Nichts«, entgegnete Julian. »Nur Angst vor dem Wasser.«
Giuseppe nahm seinem Vater die Taucherbrille ab und verpasste ihm eine saftige Ohrfeige.
Julians Vater riss erschrocken die Augen auf. »Was … was ist passiert?« Sein Gesicht war kreidebleich. Die anderen Kursteilnehmer standen in voller Tauchermontur um sie herum und begafften seinen Vater wie einen gestrandeten Wal.
»Du hattest nur einen Blackout!«, klärte ihn Julian erleichtert auf. »Kein Grund zur Panik.«
Sein Vater holte mehrmals tief Luft. Allmählich kehrte seine Gesichtsfarbe zurück.
»Hören Sie«, sagte Giuseppe zu ihm. »Es wäre vielleicht besser, Sie würden sich die Fische vom Glasboden-Boot aus ansehen. Ich kann Sie unmöglich mit unter Wasser nehmen. Das verstehen Sie doch, oder?«
Julians Vater nickte benommen. Sichtlich erleichtert begann er damit, sich der sperrigen Pressluftflaschen zu entledigen.
»Mach dir nichts draus!« Julian half seinem Vater beim Ablegen der Flaschen. »Du hast es wenigstens versucht.«
Sein Vater versuchte ein Lächeln. »Du kannst mir ja nachher erzählen, wie’s gewesen ist.«
»Mach ich!«, versprach Julian. »Kommst du allein klar?«
»Ja, jetzt zisch schon ab!«, befahl ihm sein Vater. »Bevor deine Mutter mitbekommt, dass du allein tauchen gehst.«
Julian ließ sich nicht zweimal bitten. Er erhob sich mit Mühe aus der Hocke. Die Flaschen auf seinem Rücken waren ätzend schwer und die Flossen an seinen Füßen machten das Gehen auch nicht leichter. Als er sich wieder zu den anderen gesellen wollte, rief ihm sein Vater hinterher: »Ich habe deiner Mutter geschworen auf dich aufzupassen. Also unternimm bitte keine Extratouren!«
»Entspann dich, Papa! Wenn ich einen Haifisch sehe, füttere ich ihn mit einem Keks.«
»Julian, ich meine es ernst! Versprich mir, dass du dich einmal in deinem Leben an die Regeln hältst!«
»Schon kapiert«, rief Julian zurück. Er setzte die Taucherbrille auf und begab sich zurück zu den übrigen Kursteilnehmern.
Nur zehn Minuten später wusste Julian, dass sein Kumpel Alex ausnahmsweise mal die Wahrheit gesagt hatte. Tauchen war wirklich der Hammer! Unter der Wasseroberfläche atmen zu können war einfach genial. Er hörte nur seinen eigenen Atem und sein vor Aufregung pochendes Herz.
Nachdem sich alle auf dem Meeresgrund versammelt hatten, erkundigte sich Giuseppe per Handzeichen nach dem Befinden seiner Schüler. Alle antworteten mit dem Okay-Zeichen. Dann schwammen sie los.
Julian konnte sich gar nicht sattsehen. Obwohl sie nur etwa drei Meter unter der Wasseroberfläche waren, fühlte er sich wie auf einem anderen Planeten. Die von den Wellen an der Oberfläche gebrochenen Sonnenstrahlen huschten in einem stetigen Rhythmus über den Meeresgrund. Bizarre Krebse, bunte Fischschwärme, sogar eine kleine, blau-weiß geringelte Muräne konnte Julian
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