Der Schrei des Löwen
dass die beiden Jungen ein Vermögen in ihren Unterhosen trugen.
Als der uniformierte Riese ein Schuhpaar gefunden hatte, das ihm gefiel, erhob er sich und gab der Tasche einen Tritt.
»Verschwindet!«, befahl er. »Na los!«
»Aber …!« Yoba wollte protestieren, weil er der Meinung war, zwei Paar Schuhe seien zu viel. »Zwei Leute – zwei Paar!«, brummte der Soldat und rammte Yoba seinen Zeigefinger in die Brust. »Also haut ab, bevor ich es mir anders überlege!«
Yoba zog den Reißverschluss der Tasche zu, warf sie wütend über seine Schulter und nahm seinen Bruder an die Hand. Bei der Einreise in den Niger wiederholte sich die Prozedur. Allerdings kostete sie der Grenzübertritt diesmal vier Paar Schuhe statt zwei. Trotzdem fühlte sich Yoba großartig, als sie endlich auf der anderen Seite waren. Auch wenn ihn der Verlust der teuer bezahlten Schuhe schmerzte – sein Plan hatte funktioniert. Er hatte sich und seinen Bruder ohne Papiere über die Grenze geschmuggelt. Jetzt betraten sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein fremdes Land.
Der erste Eindruck war allerdings ein wenig ernüchternd. Die Grenzstation lag mitten im Niemandsland und auf dieser Seite der Grenze sah es genauso aus wie da, wo sie herkamen. Die ausgedörrte, mit Dornenbüschen gespickte Savanne erstreckte sich, so weit das Auge reichte. Lediglich eine kleineAnsammlung von armseligen Hütten konnte Yoba in der flirrenden Hitze ausmachen. Sie drückten sich in den Schatten einiger Affenbrotbäume rund um einen Brunnen. Etwas abseits davon entdeckte er ein niedriges, umzäuntes Gebäude aus verputzten Ziegeln. Vor dem Haus parkte ein nagelneuer Militärjeep. Offenbar handelte es sich um die Unterkünfte der Grenzsoldaten.
Yoba dachte an Adaeke und wünschte sich, er hätte sie mitgenommen. Er vermisste sie jetzt schon. Gleichzeitig betete er, dass Big Eagle seinen Zorn nicht an ihr ausließ. Hoffentlich nahm Anthony sein Versprechen ernst und kümmerte sich um sie, während er weg war. Yoba spürte, wie das schlechte Gewissen an ihm nagte. Wenn Adaeke etwas passierte, war es ganz allein seine Schuld.
»Durst«, sagte sein Bruder und riss ihn aus seinen Gedanken.
»Du hast Recht!«, meinte Yoba. »Stärken wir uns erst mal. Danach erkundige ich mich, wie wir von hier aus weiterkommen.«
Er gab Chioke die Wasserflasche, die er in der Schuhtasche verstaut hatte. Nachdem auch Yoba einen Schluck getrunken hatte, schulterte er die Tasche wieder und führte Chioke in den Schatten der Affenbrotbäume.
Wie Yoba schnell herausfand, pendelten altersschwache, japanische Minibusse zwischen der Grenze und der nächsten Stadt. Aber niemand fuhr weiter bis nach Agadez, den Ort, den Yoba in seinem Buch notiert hatte. Wenn man den Angaben des blinden Bettlers Glauben schenken konnte, starteten von dort die Lastwagen durch die Wüste. Er hatte den Namen in seinem Tagebuch extra dick unterstrichen.
Yoba war ein wenig ratlos, doch da kam ihm der Zufall zu Hilfe. Vielleicht lag es aber auch an Anthonys Gri-Gri unter seinem Fußballtrikot.
Als er einen Mann ansprach, der sich am Brunnen Gesicht und Füße wusch, stellte sich heraus, dass es sich um den Fahrer des mit Generatoren beladenen Lkws handelte. Yoba war der halb leere Laster mit der ungewöhnlichen Ladung schon bei der Grenzkontrolle aufgefallen.
Der Fahrer – er war Nigerianer und Moslem – musste vor der Weiterfahrt ein Nickerchen gemacht haben, denn jetzt bereitete er sich mit der Waschung am Brunnen gewissenhaft auf sein Mittagsgebet vor. Er trug ein knöchellanges weißes Gewand und eine ebenfalls weiße Kappe. Seinen Gebetsteppich hatte er auf dem Brunnen abgelegt. Wie Yoba erfuhr, waren die gebrauchten Generatoren für ein Krankenhaus in Agadez bestimmt. Er konnte sein Glück kaum fassen.
Über den Fahrpreis wurden sich Yoba und der Mann nach einigem Gefeilsche schnell einig. Sobald der Fahrer sein Gebet beendet und den Teppich wieder zusammengerollt hatte, kletterten Yoba und Chioke auf den Laster zwischen die festgezurrten Generatoren. Da die gebrauchten Maschinen nur die halbe Ladefläche einnahmen, blieb ihnen reichlich Platz. Zudem waren sie bestens mit Proviant versorgt. Die Zeit vor der Abfahrt hatte ausgereicht, um die Wasserflasche am Brunnen zu füllen und noch etwas zu essen zu kaufen. In dem namenlosen Grenzkaff hatte es sogar ein richtiges Restaurant gegeben, so dass sie jetzt nicht nur über frisches Obst, sondern auch über warme Erdnusssuppe verfügten. Sie
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