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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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schwappte in einem durchsichtigen, zugeknoteten Plastikbeutel verlockendhin und her. Yoba lief das Wasser im Mund zusammen, aber er wollte das Essen lieber für später aufbewahren. Die wenigen Einheimischen, die ihm bislang in diesem fremden Land über den Weg gelaufen waren, hatten allesamt einen extrem abgemagerten Eindruck gemacht. Und wer wusste schon, wann es das nächste Mal etwas zu essen gab.

18.
    Die Fahrt nach Agadez dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Die asphaltierte Fernstraße führte endlos geradeaus, und je weiter sie nach Norden kamen, desto ausgedörrter und feindseliger wurde die Landschaft. Obwohl die große Wüste noch Hunderte von Kilometern weit entfernt sein musste, konnte Yoba ihren heißen, alles vernichtenden Atem bereits spüren. Die Affenbrotbäume und Trockenwälder verschwanden mehr und mehr. Auch die hohen Gräser wurden mit der Zeit immer spärlicher. Am Ende gab es fast nur noch Dornenbüsche. Die Savanne hörte auf zu existieren und an ihre Stelle trat eine verwitterte Einöde aus Geröll und Sand.
    Die in der Sonne flirrende Straße schraubte sich in endlosen Kilometern über eine karge Gebirgskette. Die Hitze auf der offenen Ladefläche war unerträglich, selbst der Fahrtwind des Lasters brachte kaum Erholung. Yoba und Chioke hatten ihre neuen Fußballtrikots ausgezogen und zwischen die Generatoren gespannt, um ein bisschen Schatten zu haben. Wenigstens konnten sie die kratzigen Bündel Geldscheine endlich aus ihren Unterhosen nehmen. Jetzt steckte ihr Reisekapital wiederin der Blechdose, sicher verstaut in der Leinentasche mit den restlichen Schuhen.
    Yoba begann sich allmählich Sorgen um Chi-Chi zu machen. Sein Bruder kam ihm seit der Grenze noch komischer vor als sonst. Von der köstlichen Erdnusssuppe hatte er kaum gegessen. Jetzt kauerte er neben den rostigen Generatoren und schaukelte mit seinem nackten Oberkörper zwanghaft vor und zurück. Vielleicht wohnte in ihm ja wirklich ein Geist.
    Yoba verwarf den Gedanken sofort wieder. In seinen Augen war Chioke ganz einfach krank. Schließlich hatte er einmal eine Zeitschrift in die Hände bekommen, in der stand, dass man auch im Kopf krank werden konnte. Und wenn dem so war, konnte man Chi-Chis Krankheit auch heilen. Daran glaubte Yoba felsenfest. Sie mussten es nur nach Europa schaffen. Onkel Abeche würde ihm bestimmt helfen seinen Bruder wieder gesund zu bekommen.
    Um sich die Zeit zu vertreiben, holte Yoba sein Tagebuch hervor. Er versuchte seine Gedanken aufzuschreiben, aber wegen der unebenen Straße mit den vielen Schlaglöchern gab er sein Vorhaben schnell wieder auf. Stattdessen erhob er sich und reckte seine Glieder. Der heiße Fahrtwind blies ihm ins Gesicht. Dieses fremde Land kam ihm riesig und beinahe menschenleer vor. Ab und zu konnte er in der Ferne eine Oase oder ein Dorf mit einfachen Lehmhütten ausmachen. Manchmal kam ihnen sogar ein anderer Lastwagen oder ein mit Menschen überfüllter Pick-up entgegen. Sonst begegneten sie fast niemandem. Nur die Gazellen, die hin und wieder die endlose, meist schnurgerade Asphaltstraße überquerten, sorgten für ein bisschen Abwechslung in dieser monotonen Einöde.
    Bis auf eine kurze Pinkelpause hatten sie bislang keinen Stopp eingelegt, aber Yoba war das ganz recht. Mit jeder Meile kamen sein Bruder und er ihrem Ziel näher. Der Fahrer hatte sich während ihres kurzen Halts als freundlich und umgänglich erwiesen. Er hatte ihnen sogar eine Handvoll getrocknete Datteln aus seinem Proviant geschenkt. Yoba konnte der Versuchung nicht widerstehen und kletterte über die Generatoren hinweg auf das Dach des Führerhauses. Das Blech war von der Sonne so heiß, dass man es kaum anfassen konnte. Sogar durch die Sohlen seiner neuen Schuhe spürte er die Hitze. Als Yoba einen festen Stand hatte, richtete er sich vorsichtig auf und breitete die Arme aus. Es war ein unglaubliches Gefühl. Die zerfurchte, ausgetrocknete Landschaft flog nur so an ihm vorüber. Noch nie hatte er sich so frei gefühlt. Frei wie ein Löwe! Yoba holte tief Luft und schrie sein Glück in den heißen Fahrtwind. Sie waren auf einem guten Weg. Ganz sicher würden sie es bis nach Europa schaffen!
    Chiokes Kopf erschien hinter den Generatoren. Er sah Yoba, der mit ausgebreiteten Armen auf dem Führerhaus des Lasters stand und johlte, verständnislos an.
    »Los! Komm her!«, forderte er seinen Bruder auf. »Das musst du ausprobieren!«
    Chioke zögerte, aber dann kletterte er doch über die Maschinen hinweg zu

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