Der Schrei des Löwen
die Tasche mit den Schuhen von der Ladefläche und sprang hinterher. Anschließend half er seinem Bruder von dem Laster. Kaum waren sie unten, legte der Fahrer den Gang ein und fuhr weiter.
»Vielen Dank!«, schrie Yoba dem Laster hinterher.
Als er bemerkte, wie die unter dem Baum sitzende Männerrunde verwundert zu ihm hinübersah, biss er sich auf die Zunge. Gleichzeitig griff er hastig nach der Tasche auf dem Boden. Es war besser, nicht aufzufallen, immerhin hatten sie jede Menge Geld bei sich. Aber es war bereits zu spät: Mit Unbehagen bemerkte Yoba, wie sich ein Rudel Kinder aus dem Halbschatten einer Lehmmauer löste und zielstrebig auf sie zusteuerte.
Die ausgehungerten Straßenkinder umringten Yoba und Chioke. Ihr Anführer war vielleicht achtzehn Jahre alt, der Jüngste höchstens sieben. Yoba presste sich die Tasche mit dem Geld vor den Bauch. Er war sich der Gefährlichkeit derSituation nur allzu bewusst. Schließlich hatte er selbst lange genug auf der Straße gelebt und bestimmt ging es in diesem Land nicht viel anders zu als bei ihm zu Hause. Der Hunger war überall gleich.
Der Wortführer der Kinder musterte Yoba mit leblosen Augen. »Wer seid ihr?«, fragte er. Sein nackter Oberkörper war derart mit feinem Staub bedeckt, dass seine schwarze Haut kaum noch zu erkennen war.
Yoba schob sich unauffällig vor seinen Bruder. »Wir sind nur auf der Durchreise«, erklärte er. »Wir verkaufen Schuhe.«
Vielleicht konnte er der Bande ein Geschäft vorschlagen. Sein Puls raste. Er wollte nicht kämpfen.
Der große Junge betrachtete ihn von oben bis unten. Schlagartig wurde sich Yoba seiner neuen Kleidung bewusst. Jetzt bereute er seine Leichtsinnigkeit. Auf die halb nackten, ausgemergelten Kinder mussten Chioke und er wie ein wandelndes Warenhaus wirken. Selbstbedienung inklusive.
Der Anführer des Rudels zupfte dreist an Yobas neuem Fußballtrikot. »Gute Qualität!«, sagte er, während er mit zwei Fingern den Stoff prüfte. Sein Haussa hatte einen ungewohnten Akzent. Yoba hatte Mühe, ihn zu verstehen. Plötzlich zeigte der Junge auf die Leinentasche. Seine blutigen Fingernägel waren bis zum Nagelbett abgekaut.
»Was ist da drin?«, wollte er wissen. In seinen Augen glimmte bereits das Glücksgefühl über einen gelungenen Beutezug.
Yoba umklammerte die Tasche und presste sie an sich. »Nur Schuhe«, sagte er hastig. »Sonst nichts. Ich habe doch gesagt: Wir sind Händler!«
Verzweifelt blickte er sich nach Hilfe um, aber die Erwachsenen im Schatten des Anabaums sahen offenbar keinen Grund, sich einzumischen. Was sich unmittelbar vor ihnen auf der Straße abspielte, kümmerte sie nicht. Die Männer rauchten Zigaretten und schlürften seelenruhig ihren Morgentee. Auch sein Bruder war keine große Hilfe. Chioke drückte sich an seinen Rücken und behinderte ihn noch zusätzlich.
Yoba versuchte seine rasende Angst in den Griff zu bekommen. Er brauchte jetzt einen kühlen Kopf. Was auch geschehen mochte, er durfte auf keinen Fall die Tasche loslassen, denn ohne die Dollars waren Chioke und er verloren. Sie würden in diesem fremden Land festsitzen und langsam auf der Straße verhungern.
Die Faust kam völlig unerwartet und traf Yoba mitten ins Gesicht. Gleichzeitig versuchte jemand ihm die Tasche zu entreißen. Er krallte sich an ihr fest und trat wild um sich. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, wie sich zwei der Kinder auf seinen wehrlosen Bruder stürzten und damit begannen, ihm die weißen Turnschuhe von den Füßen zu reißen.
»Nein! Lasst ihn!«, schrie Yoba, während er hin und her gestoßen wurde. Er kämpfte wie ein Löwe, aber gegen die Übermacht der Straßenkinder hatte er keine Chance. Unzählige gierige Hände zerrten an der Tasche und seinen Kleidern. Yoba brüllte und trat um sich, das Blut rann ihm aus der Nase. Er spürte, wie das Gri-Gri um seinen Hals mit einem Ruck abgerissen wurde. Dann traf ihn erneut eine Faust und ihm wurde schwarz vor Augen.
19.
Yoba spürte, wie ein warmer Tropfen auf sein Gesicht fiel und kitzelnd über seine Wange rann. Erschrocken riss er die Augen auf. Chioke stand über ihn gebeugt und weinte. Sein Gesicht war ganz nah. Yoba schreckte hoch und blickte sich irritiert um.
Er befand sich in einem schummrigen Raum voller Fliegen. Durch ein rundes Fensterloch konnte man den wolkenlosen Himmel sehen. Draußen knatterten Mopeds vorbei und er hörte laute Stimmen. Der Raum musste sich an einer belebten Straße befinden, vermutete Yoba. Erst jetzt
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