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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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empört schloss er sich den übrigen Hotelgästen an, die den Anweisungen der italienischen Polizisten nur widerstrebend Folge leisteten. Plötzlich deutete einer der Carabinieri in Julians Richtung und rief etwas zu ihm herüber.
    »Er sagt, dass wir von hier verschwinden sollen«, stellte Adriafest, die mit einem Mal neben Julian aufgetaucht war. Sie trug ein um die Hüfte geschlungenes Batiktuch und ein rotes Bikinioberteil. »Diese armen Menschen!«, sagte sie mit Blick auf die abgedeckte Leiche.
    »Woher kommt der Mann?«, wollte Julian wissen, nachdem er aus seiner Erstarrung erwacht war.
    »Das ist ein Illegaler«, sagte Adria. »Wahrscheinlich ist draußen auf dem Meer wieder ein Boot mit afrikanischen Flüchtlingen gesunken.«
    »Was heißt ›wieder‹? Passiert das etwa öfter?«
    »Leider«, seufzte sie traurig. »Und jedes Jahr werden es mehr. Die Boote sind überfüllt und nicht seetauglich. Also sinken sie.«
    Julian sah Adria verblüfft an. »Aber das ergibt doch keinen Sinn: Ich gehe doch nicht auf ein Schiff, das ziemlich sicher absäuft!«
    »Vielleicht ist es das Risiko ja wert«, erwiderte Adria. »Wenn man nichts zu verlieren hat, kann man auch alles riskieren.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Was weiß ich? Lass uns lieber hier weggehen.«
    Sie zog Julian in Richtung Poolbar. Julian gehorchte nur zu gerne.
    »Hallo, Giovanni!«, begrüßte Adria den betagten Barkeeper. Sie bestellte einen Eiskaffee, Julian entschied sich für eine Cola. Er sehnte sich danach, dass die Bilder in seinem Kopf endlich aufhörten. Ständig sah er das Gesicht des toten Afrikaners vor sich.
    »Ist das nicht furchtbar?«, sagte Giovanni zu Adria, während er sich die Zimmernummern notierte. Sein sonnengegerbtes Gesicht spiegelte eine harte Kindheit auf den Feldern Siziliens wider. »Wenn das so weitergeht, können wir hier bald dichtmachen. Die Touristen werden woanders hingehen.«
    »So weit wird es schon nicht kommen, Giovanni.« Adria kletterte auf einen der Barhocker. »Du wirst sehen: Urlaub machen die Leute immer!«
    Mit einem Mal wurden Stimmen laut. Eine Frau Mitte vierzig und ein Mann in Anzug und Krawatte traten unter das Sonnendach der offenen Bar. Die Frau trug einen knappen, goldfarbenen Badeanzug und schob zwei Zwillinge im Kindergartenalter vor sich her.
    »Es ist ungeheuerlich!«, schimpfte die auffallend attraktive Mutter. »Wir wollen Urlaub machen und stattdessen werden meine Kinder traumatisiert!«
    Der Mann im Anzug – es handelte sich ohne Zweifel um den Direktor des Hotels – hob beschwörend die Hände. »Bitte, Signora, haben Sie doch Verständnis!«, flehte er die aufgebrachte Frau an. »In weniger als einer Stunde ist alles vorbei. Dann dürfen Ihre Kinder wieder baden und Sandburgen bauen. Glauben Sie mir, heute Abend haben Ihre Kleinen schon wieder alles vergessen.«
    »Und wenn nicht?«, zeterte die Mutter. »Ein solcher Anblick kann Kinderseelen zerstören, haben Sie darüber schon einmal nachgedacht?«
    »Für Ihre Kinder besteht nicht die geringste Gefahr«, beschwor der Hoteldirektor sie. »Wir haben einen Notfallplan für Dinge dieser Art. Wenn Sie möchten, lasse ich einen Kinderpsychologen aus der Stadt kommen. Er kennt sich mit solchen – äh – Vorfällen bestens aus.«
    Die Frau schien nicht wirklich überzeugt. »Nein, danke!«, sagte sie schnippisch. Sie packte die eingeschüchterten Zwillinge. »Kommt! Es ist besser, wir reisen noch heute ab!«
    Der gestresste Hoteldirektor tupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn. Vor dem Hintergrund des mit halb nackten Urlaubern gefüllten Swimmingpools wirkte er mit Anzug und Krawatte völlig deplatziert.
    »Alles klar, Papa?«, rief ihm Adria zu, während der Barkeeper den Eiskaffee auf den Tresen stellte.
    »Ja, ja!« Ihr Vater winkte tapfer zurück. Er hatte seine Tochter längst entdeckt. »Bitte tue mir einen Gefallen«, rief er. »Geh nicht an den Strand, ja?« In diesem Moment klingelte sein Handy. »Pronto?«
    Adrias Vater hörte kurz zu, danach schrie er etwas auf Italienisch ins Telefon und eilte mit fliegender Krawatte davon.
    »Mach dir keine Sorgen!«, rief ihm Adria hinterher. Dann schlürfte sie lautstark ihren Eiskaffee.
    Julian hatte seine Cola noch nicht angerührt. Irgendwie fühlte er sich wie im falschen Film. Erst jetzt fiel ihm wieder das wasserdicht verpackte Büchlein ein. Ohne dass es ihm bewusst war, hatte er es die ganze Zeit über in der Hand gehalten. Hastig legte er es auf den

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