Der Schrei des Löwen
Tresen.
»Was ist das?«, fragte Adria. Sie nuckelte an dem Strohhalm ihres Eiskaffees und schielte neugierig auf das nasse Päckchen. »Ist das dein Notizbuch?«
»Das habe ich eben am Strand gefunden.« Julian wischte sich die Hände an seinen Badeshorts ab.
»Denkst du, es gehörte dem Toten?«
»Keine Ahnung.«
»Und was willst du jetzt damit machen?«
Julians Antwort erübrigte sich, denn in dieser Sekunde entdeckte er seine Mutter. Sie schlängelte sich in Begleitung seines Vaters durch die rund um den Pool verteilten Liegestühle und steuerte schnurstracks auf die Bar zu.
»Oh, nein!« Julian verdrehte die Augen.
Seine Mutter war völlig aus dem Häuschen. »Gott sei Dank!«, plärrte sie schon von weitem. »Da bist du ja!«
Sein Vater war hingegen stinksauer. »Der Kerl von der Tauchschule hat gesagt, du wärst einfach weggegangen!«, schimpfte er. »Wir haben dich schon überall gesucht! Hast du denn nicht gehört, was passiert ist?«
»Doch«, erwiderte Julian. »Hab ich.«
»Und dann sitzt du seelenruhig hier herum?«, erregte sich seine Mutter ohne Rücksicht auf Adrias Anwesenheit. »Wir waren krank vor Sorge! Also los, komm jetzt!«
Am liebsten wäre Julian vor Scham im Boden versunken. Aber ihm blieb keine Wahl. Jede Weigerung hätte die peinliche Szene unweigerlich in die Länge gezogen. Also grinste er Adria blöd an, nahm das eingewickelte Buch vom Tresen und folgte seinen Eltern zurück zum Hotel.
Eine Viertelstunde später saß Julian allein auf seinem Zimmer. Seine Schwester war ausgeflogen. Wahrscheinlich hockte sie wieder neben dem Beachvolleyball-Feld und himmelte die großen Jungs an. Julian war das nur recht. Er legte sich in seinen Badeshorts auf das Bett und betrachtete unentschlossen seinen merkwürdigen Fund.
Das eingewickelte Buch war klein und relativ dünn. Und es stank nach Fisch. Die Vorstellung, der Tote vom Strand könnte das in seiner Tasche gehabt haben, jagte Julian einen Schauer über den Rücken. Instinktiv wollte er das Buch wieder loswerden, aber plötzlich entschied er sich doch anders. Einem unbestimmten Impuls folgend wickelte er es Lage für Lage aus seiner durchsichtigen Plastikfolie. Als er es schließlich in den Händen hielt, blätterte er neugierig darin herum. Das Notizbuch war vom Salzwasser weitgehend verschont geblieben, auf seinem grünen Einband prangte das Logo eines bekannten Ölkonzerns. Die Seiten selbst waren über und über mit einer winzigen Schrift vollgekritzelt. Jeder Fitzel Papier war ausgenutzt worden. Julian blätterte zurück auf die erste Seite. Die krakeligen Buchstaben waren nicht leicht zu entziffern, aber wie er schnell feststellte, schrieb der unbekannte Verfasser auf Englisch. Immerhin war Englisch das einzige Schulfach, in dem er nicht versetzungsgefährdet war. Also begann er zu lesen:
Mein Name ist Yobachi und das ist mein Tagebuch. Ich bin sechzehn Jahre alt und komme aus einem Dorf am Ufer des Imo River. Es heißt Asabutu und ist berühmt wegen seiner Kakaobäume. Es ist ein schöner Ort, aber jetzt lebe ich mit meinem Bruder in Aba (das ist eine große Stadt). Es ist nicht schön hier und wir haben nie genug zu essen. Außerdem ist es gefährlich. Darum habe ich heute beschlossen mit meinem Bruder nach Europa zu gehen.
Dort will ich wieder zur Schule und viel Geld verdienen, damit ich einen guten Arzt für meinen Bruder bezahlen kann. Denn mit Chi-Chis Kopf ist etwas nicht in Ordnung. Das war schon so, als er ein kleines Kind war, aber nach der Zeremonie ist es noch viel schlimmer geworden. Manchmal habe ich Angst, Chi-Chi könnte wirklich von einem bösen Geist besessen sein. So wie es mein Vater und die Leute im Dorf behaupten. Aber das will ich nicht. Denn Löwen sind stark, weil sie kämpfen können. Sie besiegen sogar Geister.
17.
Die schwitzende Warteschlange rückte einen Schritt vorwärts. Jetzt waren Yoba und sein Bruder nur noch zehn Meter von der Grenzstation und den kontrollierenden Soldaten entfernt. Die Sonne und die Hitze machten den Wartenden schwer zu schaffen, dennoch war nur gelegentlich ein Murren oder Stöhnen zu hören. Die meisten Grenzgänger waren fliegende Händler, die sich auf der anderen Seite im Niger gute Geschäfte erhofften. Und genau das hatte Yoba erwartet. Es war Teil seines Plans.
Nachdem er Joseph, dem blinden Bettler, etwas Geld geschenkt hatte, war Yoba zusammen mit seinem Bruder auf den größten Markt von Kano marschiert. Dort hatten sie sich mit neuen Hosen und T-Shirts
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