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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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seinem Bruder auf das Führerhaus. Yoba half ihm dabei, und als sie schließlich aufrecht nebeneinanderstanden und ihnen der heiße Fahrtwind ins Gesicht blies, brüllte er Chioke ins Ohr: »Na, wie findest du das?«
    Chioke klammerte sich an seinen Bruder und lächelte. Sein Blick verlor sich irgendwo in der endlosen Ferne. Plötzlich spürten sie unter ihren Füßen ein energisches Klopfen.
    »He, was macht ihr da oben?«, rief der Fahrer durch das Blechdach. Er beugte sich aus dem Fenster, um zu sehen, was sich über seinem Kopf abspielte. »Allah! Passt bloß auf, dass ihr nicht runterfallt!«
    Yoba und Chioke kletterten zurück auf die Ladefläche. Kurz darauf wurde der Laster langsamer. Mitten in der Einöde versperrten zwei Militärfahrzeuge die Fahrbahn, und als sie näher heranfuhren, zwangen die fremden Soldaten ihren Laster zum Anhalten.
    Am Straßenrand stand bereits ein Minibus. Die Fahrgäste knieten in einer Reihe im Sand und hatten die Hände hinter ihren Köpfen verschränkt. Einer der Soldaten schrie auf sie ein und fuchtelte mit einem Stück Gummischlauch in der Luft herum, ein anderer hielt sie mit seiner Maschinenpistole in Schach.
    Von der Ladefläche aus konnte Yoba mitverfolgen, wie ihr Fahrer gezwungen wurde auszusteigen und irgendwelche Papiere vorzeigen sollte. Einer der Soldaten behauptete, die Generatoren seien militärisches Gerät und dürften deshalb nur mit einer Sondergenehmigung transportiert werden. Natürlich hatte ihr Fahrer diese Genehmigung nicht, schließlich waren die ausrangierten Generatoren für ein Krankenhaus bestimmt, und so entwickelte sich schnell ein heftiger Streit. Am Ende zahlte ihr Fahrer zähneknirschend die geforderte Summe. Wie viel es war, konnte Yoba nicht erkennen, aber ihm wurde klar, dass es im Niger offenbar auch nicht viel anders zuging als zu Hause in Nigeria. Nur die Uniformen der Soldaten sahen anders aus. Ihre Köpfe waren nach Art der Wüstenbewohner mit meterlangen Tüchern umwickelt. Der Stoff verbarg ihre Gesichter und ließ nur einen Schlitz für die Augen frei.
    Als ihr Laster endlich weiterfahren durfte, knieten die Leute aus dem Minibus noch immer am Straßenrand auf der rötlichen Erde. Immer wieder ließ der Soldat den mit Sand gefüllten Gummischlauch auf einen der Unglücklichen hinabsausen. Entweder weigerten sie sich zu zahlen oder sie hatten einfach kein Geld. Yoba fragte sich, wie lange sie wohl schon dieses Martyrium erdulden mussten. Vorsichtshalber küsste er Anthonys Gri-Gri. Hoffentlich brachte ihm die Amulettkette auch weiterhin so viel Glück, denn die Soldaten hatten sich weder für ihn noch für seinen Bruder interessiert. Yoba konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Manchmal war es ein Segen, Jugendlicher zu sein. Jeder hielt einen für arm. Erleichtert holte er die Gelddose aus ihrem Versteck zwischen den Generatoren und verstaute sie wieder in der Tasche mit den übrig gebliebenen Schuhen.
    Sie erreichten Agadez am Ende der Nacht. Es war ein atemberaubender Moment. Nach stundenlanger Fahrt durch die Finsternis und die erbärmliche Kälte sahen sie die Lichter plötzlich vor sich. Aufgeregt rüttelte Yoba seinen Bruder wach.
    »Sieh nur!«, flüsterte er. »Wir sind da!«
    »Europa?« Chioke rieb sich verschlafen die Augen.
    »Nein, noch nicht«, feixte Yoba. »Aber in der Stadt dahinten können wir die Fahrkarten durch die Wüste kaufen. Zumindest hat das der blinde Bettler behauptet.«
    Chioke erwiderte nichts. Stattdessen hockte er sich wieder in die Ecke der Ladefläche und schlief weiter. Yoba hingegen war hellwach. Er wusste nicht, ob es daran lag, dass es tagsüber so heiß gewesen war, aber seitdem die Sonne untergegangen war, hatte er nur noch gefroren. Die Nacht war eiskalt undYoba wünschte sich endlich von dem Laster herunterzukommen. Aber es dauerte länger, als er gedacht hatte. Als sie die Berge hinabgekrochen waren, wurde es bereits hell.
    Die aufgehende Sonne ließ die aus Lehmziegeln erbaute Stadt in einem goldenen Licht erstrahlen. Yoba staunte. Selbst die Moschee mit den zwei Türmen und der große Palast, an dem sie vorbeifuhren, bestanden aus getrockneter, mit Stroh vermischter Erde. Gebäude aus Stein gab es nur wenige, dafür entdeckte Yoba sogar einen kleinen Zoo. Kurz darauf hielt der Lkw an einer ungepflasterten Kreuzung unter einem dornigen Anabaum. Der freundliche Fahrer lehnte sich aus dem Fenster.
    »Endstation!«, rief er nach hinten. »Ihr müsst hier aussteigen!«
    »Okay!« Yoba warf

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