Der Schrei des Löwen
vermutete, dass es der tunesische Fahrer war. Er beachtete ihn nicht weiter, sondern rüttelte Mary an der Schulter.
»Wach auf!«, flüsterte er voller Panik. »Bitte!«
Mary rieb sich die Augen. »Fahren wir weiter?«
»Nein.« Yoba schüttelte energisch den Kopf. »Hast du Chi-Chi gesehen?«, fragte er ängstlich.
»Wen?«
»Meinen Bruder! Er ist nicht mehr da!«
»Er ist bestimmt nur zum Pinkeln zwischen die Felsen«, erwiderte Mary müde. »Er wird schon wiederkommen, okay?«
Mit einem schlaftrunkenen Blick überprüfte sie, wie es ihrem Baby ging, dann rollte sie sich wieder in ihre Decke und drehte sich zur Seite.
Yoba war verzweifelt. Er ging ein paar Schritte in die Nacht hinaus. Wo konnte sein Bruder nur sein? Vielleicht hatte Mary ja Recht, aber was war, wenn er sich auf dem Rückweg verlaufen hatte? In der Wüste herrschte beinahe völlige Finsternis, im Sternenlicht ließen sich lediglich Konturen erahnen.
Yoba war hin und her gerissen. Sollte er warten oder nach seinem Bruder suchen? Und wo sollte er anfangen? Chiokekonnte in jede Richtung gegangen sein. Am Ende hielt er es nicht länger aus. Er kletterte aus der flachen Senke, in der sich ihr Lagerplatz befand, und machte sich auf die Suche. Vorsichtig tastete er sich auf dem steinigen Boden vorwärts. Dabei rief er immer wieder Chiokes Namen. Nichts. Keine Antwort. In immer größerer Sorge um seinen Bruder entfernte Yoba sich weiter und weiter von ihrem Lager. Mehrmals musste er die Richtung wechseln, weil ihm Felsen den Weg versperrten. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er die Orientierung verloren hatte, und seine Sorge verwandelte sich in nackte Angst.
Bei seinem Versuch, den Lagerplatz und den Lkw wiederzufinden, stolperte er kopflos weiter. Dabei schrie er Chiokes Namen, doch die nächtliche Wüste schien seine Schreie einfach zu verschlucken. Mehrmals fiel er der Länge nach hin und schlug sich das Knie blutig. Trotzdem tastete er sich wie von Sinnen weiter vorwärts. Er musste den Lkw und die anderen wiederfinden! Doch irgendwann sackte Yoba völlig erschöpft zusammen. Er zitterte am ganzen Körper. Wie in Trance beobachtete er an einen Felsen gelehnt die aufgehende Sonne.
Beinahe hätte er laut gelacht. In seiner Angst um Chioke hatte er sich wie ein Dummkopf benommen. Er hatte die Nerven verloren. Er musste doch nur warten, bis es hell wurde. Yoba atmete tief durch und befühlte vorsichtig sein aufgeschlagenes Knie. Sobald die Sonne aufgegangen war, würde er auf den nächstbesten Felsen klettern. Von dort aus konnte man den Lagerplatz gewiss sehen. Schließlich war der Laster riesengroß und selbst aus einiger Entfernung nicht zu übersehen. Yoba wunderte sich über sich selbst. Chioke hatte sich bestimmt klüger verhalten als er. Wahrscheinlich war er längst wieder zurück und bewachte die Tasche mit dem Geld.
Als es endlich hell genug war, kletterte Yoba auf einen hohen Felsen und sah sich um. Von seinem Standpunkt aus konnte er endlos weit schauen – aber da war nichts. Nichts außer Steinen, Felsen und Sand. So weit das Auge reichte. Der Lastwagen schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Yoba wurde schwindelig. Die Angst griff nach seinen Eingeweiden und seine Gedanken rasten. War er in seiner kopflosen Panik wirklich so weit gelaufen?
Er legte die Hände um den Mund und rief, so laut er konnte, um Hilfe. Er musste den Lkw um jeden Preis finden, denn viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Er wusste nicht, wann sie weiterfahren würden, aber ganz sicher würden die Fahrer die Kühle des Morgens nutzen und früh aufbrechen wollen. Yoba sprang von dem Felsen und suchte sich einen noch höheren. Aber auch von dort aus konnte er nichts entdecken. Es war wie verhext. Der Lastwagen hatte sich in Luft aufgelöst. Fieberhaft versuchte er sich an den Rückweg zu erinnern, aber es war stockfinster gewesen und die Felsen sahen irgendwie alle gleich aus.
Jetzt blieb ihm nur noch zu hoffen, dass man ihn vermissen und suchen würde. Aber ob die beiden Fahrer sein Verschwinden wirklich kümmerte? Yoba rauschte das Blut in den Ohren. Er wusste einfach nicht, wo er suchen sollte. Mal schlug er eine Zeit lang die eine Richtung ein, dann versuchte er es wieder in der anderen. Zwischendurch kletterte er immer wieder auf einen Felsen, um Ausschau zu halten. Doch der Lastwagen blieb verschwunden. Yobas Verzweiflung wuchs mit jeder Minute, die er in der endlosen Einöde umherirrte. Als die Sonne bereits hoch am Himmel stand und er den Lkw noch
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