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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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hätten sie den Verstand verloren.
    »Wollt ihr mich auf den Arm nehmen?«, fragte er auf Italienisch.
    »Nein, nein!«, erwiderte Adria rasch. »Das würden wir nie wagen! Wir suchen den Jungen wirklich.«
    Der Beamte hinter dem Schreibtisch zupfte misstrauisch an seinem Vollbart. Schließlich gab er Julian das kleine Buch zurück.
    »Tut mir leid, in dem Fall kann ich euch nicht weiterhelfen«, sagte er auf Englisch zu Julian.
    Doch damit gab der sich nicht zufrieden. Er handelte sich gerade einen Höllenkrach mit seinen Eltern ein, darum wollte er sich jetzt nicht einfach so abspeisen lassen.
    »Aber irgendjemand muss doch was wissen!«, bohrte Julian. »Gibt es denn keine Listen mit den Namen? Wir wissen, wie der Junge heißt!«
    Der Beamte ordnete einen Papierstoß auf seinem überquellenden Schreibtisch. »Immer langsam, junger Mann!«, bremste er ihn. Sein Englisch hatte einen starken Akzent. »Schiffbrüchige leiden meist an Unterkühlung, sie sind unterernährt oder kurz vor dem Verdursten. Wenn sie überhaupt noch leben. Sollen wir sie etwa nach ihrem Pass fragen, bevor wir sie aus dem Wasser fischen?« Er legte den Papierstoß zur Seite und schüttelte den Kopf. »Nein, Schiffbrüchige haben keine Namen. Jedenfalls nicht für uns.«
    Julian und Adria schwiegen. Sie kamen sich naiv und kindisch vor.
    »Ich kann eure Enttäuschung ja verstehen«, versuchte sie derBeamte zu trösten. Offenbar war er früher selbst zur See gefahren, bevor man ihn – aus welchen Gründen auch immer – hinter den Schreibtisch verbannt hatte. »Der Schreiber des Tagebuchs hätte sich bestimmt gefreut es zurückzubekommen. Aber allein in unserem kleinen Küstenabschnitt stranden jeden Monat über fünfhundert Illegale aus Afrika. In ganz Italien sind es weit über vierzigtausend im Jahr. Und das sind nur die, die wir erwischen oder als Leiche aus dem Wasser holen. Wer soll da den Überblick behalten?«
    »Und was geschieht mit denen, die Sie gerettet haben?«, fragte Julian.
    »Die werden den Carabinieri und der Einwanderungsbehörde übergeben«, erklärte der Beamte. »Danach werden sie medizinisch versorgt, und wenn sie gesund sind, werden sie auf die Lager verteilt.«
    Julian und Adria wechselten irritierte Blicke.
    »Was denn für Lager?«, fragte Adria.
    Dem Beamten der Küstenwache wurde das Gespräch allmählich unangenehm. »Vielleicht wäre ›Sammelstelle‹ das bessere Wort«, sagte er knapp. »An diesen Orten werden die Illegalen lediglich gesammelt, um sie zurück nach Hause zu fliegen. Mehr nicht.«
    »Und wo sind diese sogenannten Lager?«, erkundigte sich Julian.
    »Das größte befindet sich auf der Insel Lampedusa«, erklärte der Beamte. »Wir schicken unsere Illegalen dorthin.« Er erhob sich mit einem Seufzer und winkte die zwei hartnäckigen Teenager ans Fenster. Es bot einen atemberaubenden Blick auf den Hafen der Stadt.
    »Dort unten liegt die Pina .« Der Beamte deutete auf ein Schiffder Küstenwache. Es lag direkt neben einer Autofähre am Kai. »Die Pina war vor drei Tagen draußen und hat die Rettungsaktion auf See geleitet. Fragt nach Capitano Andrelli, vielleicht kann der euch ja weiterhelfen.«
    Er wollte Julian und Adria gerade aus seinem Büro verscheuchen, als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Nachdem er kurz zugehört hatte, legte er wieder auf.
    »Ihr habt wirklich Pech«, eröffnete er Julian und Adria. »Gerade ist ein neuer Notruf eingegangen. Ein Fischer hat oben am Kap ein manövrierunfähiges Flüchtlingsboot gemeldet. Capitano Andrelli läuft sofort aus.«
    Julian überlegte nicht lange. »Los, komm!«, forderte er Adria auf. Dann rannten sie die Treppen hinunter.
    Sie verließen das Gebäude, überquerten die Straße und schlängelten sich durch die Autos und das Gewusel am Hafen. Als sie die Anlegestelle der Küstenwache erreichten, war das Schiff bereits im Begriff abzulegen. Die Schiffsschraube wirbelte das schmutzige Hafenwasser auf, ein Matrose löste das letzte Tau vom Poller, warf es an Deck und sprang hinterher. Sie rannten los und Adria rief dem Matrosen noch etwas auf Italienisch zu, aber es war aussichtslos. Die Pina preschte bereits mit schäumender Bugwelle durch die Hafeneinfahrt hinaus aufs Meer.
    »Und was jetzt?« Adria rang nach Luft.
    Auf dem Pier hielt ein Taxi. Eine Gruppe Nonnen stieg aus und bewegte sich in Richtung einer Fähre.
    »Vielleicht gibt es doch noch eine Möglichkeit!«, keuchte Julian und winkte dem Taxifahrer. Er hatte eine Idee:

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