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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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Essensvorräte auszupacken. Am Ende entschied er sich für eine Dose Bohnen in Tomatensoße, ein halbes Fladenbrot und zwei Bananen, die dringend gegessen werden mussten, weil sie schon matschig waren. Als er Marys Blick sah, stutzte er.
    »Willst du vielleicht mit uns essen?«, fragte er schüchtern.
    »Euch schickt der Himmel!«, rief Mary daraufhin aus. »Ich sterbe nämlich vor Hunger und habe nichts mehr!«
    »Du hast keinen Proviant dabei?«, entfuhr es Yoba überrascht. Er traute seinen Ohren nicht. Ohne Vorräte und mit einem Baby war die Reise wirklich riskant. Mary schien seine Gedanken erraten zu haben.
    »Die Soldaten an der Straßensperre haben meine Tasche gestohlen«, schimpfte sie. »Da war alles drin. Ich habe sie angefleht, weil ich doch Milch für mein Baby brauche, aber das war diesen Unmenschen egal!«
    Sie machte eine wütende Geste.
    »Keine Sorge«, beruhigte Yoba sie. »Wir haben genug. Das reicht auch für drei – äh – vier.«
    Er schielte auf das Baby und grinste verlegen. Dann machte er sich hastig daran, die Bohnendose mit dem scharfen Metallhaken aufzuhebeln, den er zusammen mit den Lebensmitteln auf dem Markt von Agadez erstanden hatte. Ein nicht ganz leichtes Unterfangen, denn mittlerweile war es fast dunkel. Anschließend brach er das bretthart gewordene Fladenbrot in Stücke und schälte die Bananen. Zum Schluss riss Yoba noch eine der chinesischen Kekspackungen auf. Ursprünglich hatte er die Kekse für Notfälle vorgesehen, aber da sie nun zwei hungrige Esser mehr waren, wollte er eine Handvoll opfern. Mary tat ihm leid. Sie erinnerte ihn irgendwie an Adaeke.
    Nachdem die dürftige Mahlzeit auf der Decke fertig angerichtet war, stürzten sie sich mit bloßen Fingern auf das Essen.
    »Wissen eure Eltern eigentlich, dass ihr hier seid?«, nuschelte Mary, während sie sich mit zwei Fingern kalte Bohnen in den Mund stopfte. Sie hatte ihr Baby nach dem Stillen wieder mit etlichen Lagen Stoff umwickelt und das Bündel auf ihren Schoß gelegt.
    »Klar!«, log Yoba und biss in die überreife Banane. »Sie haben uns das Geld für die Reise gegeben. Ich soll meinen Bruder zu unserem Onkel bringen.«
    Die wahren Umstände ihrer Reise wollte Yoba lieber erst mal für sich behalten. Sein Bruder knabberte selig an dem Fladenbrot. Es war bewundernswert, mit wie wenig er glücklich war.
    »Ich fahre zu meinem Mann!«, erklärte Mary mit vollem Mund. Sie war nicht nur hungrig, sondern ebenso froh mit jemandem reden zu können. »Er wartet in Italien auf mich«, schmatzte sie. »Seit einem halben Jahr.«
    »Aber warum schickt er dir dann nicht ein Ticket für das Flugzeug?«, fragte Yoba und schob der Banane ein paar kalte Bohnen hinterher. »Er kann dir doch ein Visum besorgen. Dann könntest du dir die Wüste und diese elende Fahrt sparen.«
    Mary schüttelte den Kopf. »Das kann er nicht. Er ist aus Liberia geflohen und heimlich in Italien.«
    »Und warum ist er geflohen?«
    »Mein Mann hat einen Streik organisiert. In der Fabrik, in der er gearbeitet hat. Aber das hat den Leuten nicht gefallen.«
    »Welchen Leuten denn?«
    »Na den Leuten, denen die Fabrik gehört!«, ereiferte sich Mary. »Sie wollten ihn deswegen ins Gefängnis werfen lassen. Deshalb ist er geflohen. Mitten in der Nacht und mit all unseren Ersparnissen.« Mary strich zärtlich über das winzige Gesicht des schlafenden, nur wenige Monate alten Babys. »Er weiß noch gar nicht, dass er eine Tochter hat.«
    »Wie heißt sie denn?«
    »Sarah.« Mary lächelte stolz.
    »Das ist ein schöner Name!«, fand Yoba.
    Während sie weiteraßen und jeden Bissen sorgfältig kauten, dachte Yoba darüber nach, wie mutig es war, mit einem neugeborenen Baby durch die Wüste zu fahren.
    »Was ist eigentlich mit deinem Bruder?«, wollte Mary wissen, nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten und sich zum Schlafen bereit machten. »Er ist so still. Außerdem schaukelt er so komisch.«
    »Das ist ganz normal«, wich Yoba aus.
    Plötzlich breitete sich Unruhe unter den Reisenden aus, denn entfernt in der Dunkelheit leuchtete ein Scheinwerferpaar auf. Die beiden Fahrer wurden sofort nervös. Einem Mann, der im Schein einer kleinen Taschenlampe in seinem Koran las, trat der Tunesier fluchend das Licht aus der Hand. Gleichzeitig kletterte sein Kollege, der Libyer, wieselflink auf das Führerhaus des Lkws und spähte in die nächtliche Wüste hinaus.
    Ein beklemmendes Schweigen legte sich über die Reisegruppe. Mittlerweile waren alle wach und

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