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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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beobachteten mit Sorge die durch die Nacht irrenden Lichter. Jeder wusste, dass es in der Wüste Banditen gab. Die Scheinwerfer in der Ferne erloschen und tauchten kurz darauf wieder auf. Dann waren sie mit einem Mal endgültig verschwunden und allmählich wich die Anspannung. Schon bald war der Vorfall vergessen und die beiden Fahrer krochen wieder unter ihren Laster und legten sich schlafen.

27.
    Yoba entrollte die Wolldecke und deckte seinen Bruder damit zu. Dann legte er sich neben ihn und wickelte sich ebenfalls in seine Schlafdecke. Schon jetzt war er froh Babatundes Ratschlag gefolgt zu sein, außer Lebensmitteln noch Wolldeckenvor der Abfahrt zu kaufen. Obwohl der Sand und die Felsen noch warm waren, war die Luft mit dem Verschwinden der Sonne sofort eiskalt geworden. Nie hätte er gedacht, dass es nachts in der Wüste so kalt werden würde.
    Yoba drehte sich auf den Rücken und sah hinauf in den klaren Sternenhimmel. Der Anblick war überwältigend. Die Sterne schienen zum Greifen nah. Je länger er hinaufsah, desto mehr überkam Yoba das Gefühl, sich in der schwindelerregenden Unendlichkeit zu verlieren. Er fühlte sich winzig wie eine Ameise.
    Chioke lag neben ihm und schnarchte leise. Yoba fragte sich, ob er diese ganzen Strapazen und Gefahren wirklich nur wegen seinem Bruder auf sich nahm. Oder tat er das in Wahrheit vielleicht nur für sich selbst? Benutzte er Chi-Chi am Ende nur als Vorwand, um seine eigenen Träume zu verwirklichen? Yoba fröstelte trotz der Decke. Er war im Begriff, das Schicksal herauszufordern, und wenn er scheiterte, würde Chi-Chi ebenfalls bitter dafür bezahlen müssen. Das wurde ihm schlagartig bewusst.
    Plötzlich fielen ihm die mysteriösen Scheinwerfer wieder ein. Die unfreundlichen arabischen Fahrer waren bestimmt nicht umsonst so alarmiert gewesen. Kein Wunder, denn wer fuhr schon nachts durch die Wüste? Die Gefahr, auf einen spitzen Stein zu fahren und sich einen Platten einzufangen, war viel zu groß. Yoba schälte sich aus seiner Decke und kramte die Gelddose aus der Reisetasche. Dann vergrub er sie unter sich im warmen Sand. Als er damit fertig war, legte er sich darüber und schlüpfte wieder unter die Wolldecke. Beruhigt schloss er die Augen. Nur eine Sekunde später überkam ihn eine bleierne Müdigkeit und er schlief ein.
    In seinem Traum stand er vor einem schwarzen Abgrund. Eine hölzerne Brücke überspannte die Tiefe. Yoba beobachtete sich selbst, wie er einen Fuß auf die Brücke setzte. Ganz weit unter ihm toste ein reißender Fluss voller grausiger Wesen. Auf der anderen Seite der Brücke stand eine schemenhafte Gestalt. Je weiter Yoba über die Brücke schritt, desto deutlicher wurde ihr Gesicht: Es war sein Bruder! Chioke lachte und winkte ihm von der anderen Seite aus zu, dann trat er an den Rand des Abgrunds. Yoba schrie, er solle von dort wegbleiben, aber es kam kein einziger Laut über seine Lippen. Chioke beugte sich über den Abgrund, so als würde er jede Sekunde herunterspringen. Yoba wollte losrennen, um seinen Bruder zu retten, aber jemand hielt ihn fest. Es war seine tote Mutter. »Lass ihn!«, hauchte sie lächelnd. Ihre Stimme streifte sein Ohr wie ein kalter Windhauch. Erschrocken riss sich Yoba los. Er rannte über die Brücke, aber kaum hatte er ihre Mitte erreicht, löste sie sich unter seinen Füßen in Luft auf. Yoba fiel ins Bodenlose. Er schrie und schlug um sich. Das Letzte, was er wahrnahm, war sein Bruder. Chioke stand noch immer über den Abgrund gebeugt und rief ihm aus der Ferne etwas Unverständliches zu.
    Yoba fuhr schweißüberströmt hoch. Über ihm funkelte der Sternenhimmel und es war bitterkalt. Er fror erbärmlich. Mary hatte sich mit ihrem Baby, so gut es ging, unter eine fadenscheinige Decke verkrochen. Im fahlen Licht des Mondes konnte Yoba erkennen, wie sie das Kind fest an sich drückte. So als wolle sie es selbst im Schlaf noch beschützen.
    Yoba drehte sich zu seinem Bruder um und erstarrte. Er tastete mit der Hand über die Decke: Der Platz neben ihm war leer! Chioke war weg. Blitzschnell sprang Yoba auf die Beine.
    »Chioke?«, rief er mit gedämpfter Stimme in die Nacht hinaus.
    Er lauschte, bekam aber keine Antwort. Um ihn herum erhoben sich die unheimlichen Schatten der Felsen. Im Licht der Sterne wirkten sie auf eine beklemmende Art lebendig.
    »Chi-Chi!«, versuchte er es noch einmal. »Wo bist du? Komm zurück!«
    »Ruhe!«, brüllte jemand im Dunkeln. »Bei Allah! Sonst kannst du zu Fuß gehen!«
    Yoba

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