Der Schrei des Löwen
immer nicht gefunden hatte, verkroch er sich unter einem Felsüberhang und brach in Tränen aus.
28.
Die Zeit verrann unaufhaltsam, aber Yoba war unfähig sich zu rühren. Er quetschte sich unter den Felsüberhang und machte sich ganz klein. Er bettelte darum, dass alles nur ein Traum war und er neben Mary und seinem Bruder aufwachen würde. Aber er wachte einfach nicht auf. Alles war grausame Wirklichkeit. Yoba kroch unter dem Felsen hervor und trocknete seine Tränen. Was er jetzt brauchte, war ein klarer Kopf. Er kniff die Augen zusammen und blinzelte gegen die grelle Sonne an. Weit in der Ferne erhob sich ein Gebirge. Yoba erkannte es anhand seiner gezackten Gipfel wieder. Seit ihrer Abfahrt aus Agadez hatte sich das ferne Bergmassiv stets auf der linken Seite befunden. Yoba hatte von seinem Platz auf der Ladefläche nicht viel von der Umgebung mitbekommen, aber was das Gebirge betraf, war er sich sicher. Also brauchte er nur darauf zu achten, dass sich die Berggipfel auch weiterhin auf seiner linken Seite befanden. Dann stimmte wenigstens die Richtung.
Ein Funken Hoffnung keimte in ihm auf. Der Lkw war längst ohne ihn weitergefahren, daran bestand kein Zweifel, aber mit ein wenig Glück würde er seine Reifenspuren finden. Dann bräuchte er ihnen nur zu folgen. Der Laster kroch so langsam durch die Wüste, dass die Chance bestand, ihn vielleicht zu Fuß einzuholen. Allerdings gab es da ein Problem: Er hatte keinen einzigen Tropfen Wasser dabei!
Die Erkenntnis traf Yoba wie ein Faustschlag in die Magengrube. Schon jetzt konnte er vor Durst kaum schlucken. Obwohl die Vormittagssonne noch nicht ihre volle Kraft entfaltethatte, flirrte die Luft bereits vor Hitze. Und die Temperatur stieg spürbar weiter. Wenn er den Lkw einholen wollte, musste er sich beeilen. Spätestens am nächsten Tag würde er verdurstet sein. Der Schweiß brannte Yoba in den Augen. Er wischte sich mit seinem verstaubten Fußballtrikot übers Gesicht und ging los. Er umging tückische Felsspalten, durchquerte verdorrte Senken und kletterte über haushohe Dünen. Währenddessen suchte er unablässig nach Reifenspuren. Aber sosehr er sich auch quälte, er entdeckte nicht das geringste Anzeichen auf menschliches Leben in dieser endlosen Einsamkeit.
Als die Sonne am Abend unterging, sank Yoba völlig entkräftet zu Boden. Seine Zunge war so dick angeschwollen, dass er kaum den Mund zubekam. Die aufgerissenen Lippen bluteten. Seine Füße in den Turnschuhen spürte er schon lange nicht mehr. Aber noch schwerer als die körperlichen Schmerzen und die Ausweglosigkeit seiner Situation wogen die Vorwürfe, die sich Yoba machte. Er hatte versagt und das Versprechen, das er seiner Mutter gegeben hatte, nicht gehalten. Statt Chi-Chi zu beschützen, hatte er ihn verloren. Ohne ihn war sein kleiner Bruder hilflos.
Bei dem Gedanken daran, was seinem Bruder alles passieren konnte, krampfte sich sein leerer Magen zusammen. Die aufsteigende Magensäure brannte in seinem wunden Mund und machte den Durst nur noch schlimmer. Außerdem hatte er inzwischen eine Höllenangst vor Skorpionen und Schlangen. Auf seinem bisherigen Marsch durch die Wüste hatte er fast hinter jedem Stein eine dieser giftigen Kreaturen aufgescheucht.
Yoba kroch auf allen vieren auf eine Felsmulde zu. Sein aufgeschlagenes Knie war mittlerweile völlig gefühllos. Als erden Rand der Vertiefung erreicht hatte, ließ er sich kopfüber hineinfallen und rollte sich zusammen. Wenn er sich nicht rührte, fanden ihn die giftigen Viecher vielleicht nicht.
Obwohl Yoba vor Erschöpfung keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, wollte er nicht schlafen. Der überwältigende Sternenhimmel, den er gestern noch bewundert hatte, schien ihn jetzt zu verhöhnen, indem er Yoba auf brutale Weise seine eigene Winzigkeit spüren ließ. Mit zitternden Fingern tastete er nach dem kleinen Tagebuch in seinem Hosenbund. Es war das Einzige, was ihm noch geblieben war. Als er das grüne Büchlein an seine Brust presste, fühlte er die Dollarscheine knistern, die er zwischen die Buchdeckel geklemmt hatte. Der Rest von Big Eagles Geld ruhte nun in einer Blechdose, irgendwo im Wüstensand vergraben. Vielleicht würde jemand die Dose ja in tausend Jahren finden, wer wusste das schon. Er hatte alles verloren. Seinen Bruder, das Geld, und ohne fremde Hilfe würde er sicher bald auch sein eigenes Leben verlieren.
Zähneklappernd schreckte Yoba aus einem traumlosen Schlaf hoch. Die eisige Kälte der Wüstennächte war
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