Der Schrei des Löwen
zerstören!«
»Und wenn ich euer Leben gar nicht will?« Julian sprang von seinem Stuhl auf. »Was ist dann? Habt ihr darüber mal nachgedacht?«
Julian fegte ein leeres Marmeladentöpfchen von dem Frühstückstisch und stürmte wutschnaubend davon.
26.
Der schwer beladene Laster quälte sich weiter über die endlose Ebene. Die Reifenspuren, denen er anfangs noch gefolgt war, waren längst verschwunden. Von nun an gab es für die Fahrer keine Orientierungshilfe mehr. Die häufigen Stürme und gelegentlichen, sintflutartigen Regenfälle formten die Wüste ständig neu. Wo gestern noch eine sichere Passage war, konnte schon heute ein tückisches Sandloch oder eine verborgene Felsspalte lauern. Das zwang die Fahrer sich stets neue Wege zu suchen, was wiederum erklärte, warum Yoba in den letzten Stunden nur einen einzigen weiteren Lkw in der Ferne gesehen hatte. Obwohl Dutzende von ihnen in dieser Einöde unterwegs waren, begegneten sie sich fast nie.
»Wenn du hier ’ne Panne hast, finden dich nicht mal die Geier«, stellte Yobas Hintermann fest. Er sprach aus, was alle dachten. Wenn man in diesem menschenleeren Glutofen liegenblieb, würden man exakt so lange überleben, wie die Wasservorräte reichten. Keine Minute länger.
Als die Sonne zu sinken begann und die Schatten der Felsen immer länger wurden, hatten der dicke Tunesier und der Libyer im Fahrerhaus endlich ein Einsehen. Sie hielten in einer Bodensenke an und stellten den Motor ab. Wahrscheinlich war ihnen die Weiterfahrt im Dunkeln zu riskant, jedenfalls war die Erleichterung auf der Ladefläche groß. Alle wollten nur noch eins: möglichst schnell runter von dem Laster!
Yoba erging es da nicht anders. Er drängelte kräftig mit, und als Chioke unten war, sprang er mit ihrer Tasche unter dem Arm hinterher. Endlich! Fast wäre Yoba auf die Knie gesunken und hätte den sandigen Boden geküsst. Aber er hatte etwasDringenderes zu erledigen und deswegen rannte er wie alle anderen zwischen die Felsen, um sich zu erleichtern. Chioke folgte ihm im Laufschritt.
Nachdem sie ihr Geschäft erledigt hatten, band Yoba einen ihrer Wasserkanister vom Lastwagen los. Sobald er den Drehverschluss geöffnet hatte, riss Chioke den Kanister an sich und begann gierig zu trinken.
»Halt! Stopp!«, bremste Yoba ihn. »Nicht so viel auf einmal! Das ist nicht gut!« Behutsam nahm er Chioke den Kanister wieder ab. »Außerdem müssen wir sparen. Wer weiß, wie lange diese Höllenfahrt noch dauert.«
Dann nahm er ebenfalls einen Schluck. Trotz der notdürftigen Isolation aus alten Säcken und Pappe war das Wasser brühwarm. Es schmeckte nach Plastik, aber Yoba genoss trotzdem jeden einzelnen Tropfen. Seit Stunden klebte seine Zunge am Gaumen und sein Mund war trockener als die Wüste selbst.
Yoba reichte Chioke erneut den Kanister, danach verschloss er ihn mit größter Sorgfalt. Als sie zwischen den Felsen waren, um ihr Geschäft zu erledigen, hatten sie die Gelegenheit genutzt und die durchschwitzten Reisedollars aus ihren Unterhosen geholt und zurück in die Blechdose befördert. Anschließend hatte Yoba ihren gut verschlossenen Safe unauffällig in der Provianttasche verstaut. Dann war es an der Zeit, einen Schlafplatz zu suchen. Die orangerote Sonne berührte bereits den Horizont. Bald würde es schlagartig dunkel werden, denn in der Wüste vollzog sich der Wechsel von Tag zu Nacht rasend schnell. Außerdem knurrte sein Magen.
»Lass uns dort drüben schlafen!«, schlug Yoba vor. Er deutete auf einen halb im Sand vergrabenen Felsbrocken etwas abseits des Lastwagens. Die junge Mutter mit dem Baby hatte sich in seinem Schutz niedergelassen und stillte ihr Kind. Yoba hielt es für eine gute Idee, in ihrer Nähe zu bleiben. Unter den vielen jungen Männern waren die Frau, Chioke und er die Außenseiter. Vielleicht könnten sie sich ja gegenseitig helfen.
»Dürfen wir hier schlafen?«, fragte er sie. »Wir stören auch nicht.« Die Frau war höchstens Anfang zwanzig und ziemlich hübsch, wie Yoba fand. Auch wenn das Kopftuch ganz anders gewickelt war als bei den Frauen zu Hause in Nigeria.
Die junge Mutter hob überrascht den Kopf. Dann lächelte sie. »Warum nicht? Ich habe euch schon auf dem Laster gesehen. Ich heiße Mary«, sagte sie auf Englisch. »Ihr seid Nigerianer, stimmt’s?«
»Stimmt«, entgegnete Yoba. »Wir kommen aus Aba.« Er breitete seine Schlafdecke aus. »Ich bin Yoba und der da ist mein Bruder Chioke. Er redet nicht viel.«
Yoba begann ihre
Weitere Kostenlose Bücher