Der Schrei des Löwen
zerreißen, der ihn für gewöhnlich umgab und von der Außenwelt abschnitt. Mit klarer Stimme sagte er: »Ich habe auf dich gewartet!«
Dann zuckte sein Kopf kurz zur Seite, er setzte sich wieder hin und glitt zurück in seine eigene Welt.
Yoba stürmte auf ihn zu. Die Tränen schossen ihm in die Augen. Er umarmte seinen Bruder und drückte ihn, so fest er konnte, an sich.
»Ich werde dich nie mehr alleinlassen!«, flüsterte er mit tränenerstickter Stimme. »Das verspreche ich dir. Eher sterbe ich!«
Weder erwiderte Chioke die Umarmung noch antwortete er. Yoba störte das nicht im Geringsten. Er war einfach nur glücklich. Plötzlich tippte ihm von hinten jemand auf die Schulter.
»Willkommen am schönen Meer!«
Yoba ließ seinen Bruder los. Hinter ihm stand Babatunde und grinste breit. »Ich habe immer gesagt, dass du uns schon rechtzeitig finden wirst!«
»Babatunde!«, stieß Yoba hervor. »Bin ich froh dich zu sehen!«
»Die anderen sind auch da. Dort in der Ruine!« Babatunde deutete auf eine zerfallene Pumpstation unmittelbar neben der Abwasserrinne. »Wir haben deinen Bruder in Dirkou gefunden. Er war in Begleitung einer armen Frau mit einem toten Baby.«
»Die Frau war total durchgeknallt!«, rief Sunday, während er aus der Ruine trat. »Deshalb haben wir deinen Bruder mit auf unseren Lkw geschmuggelt.« Er baute sich vor Yoba auf und musterte ihn von oben bis unten. »Unglaublich! Bist du ein Geist oder hast du es tatsächlich geschafft? Man hat uns erzählt, du hättest dich beim Pinkeln in der Wüste verirrt!«
»Ich dachte schon, alles wäre verloren!«, brach es aus Yobaheraus. Chi-Chis Hand hielt er noch immer fest umklammert. »Ich muss dringend mit euch reden. Ich habe Kutu getroffen!«
»Dann komm doch rüber in unser Apartment«, scherzte Sunday bitter und deutete auf die Ruine. Sie besaß weder Dach noch Tür und zwei Wände waren bereits eingestürzt. »Es ist nicht so luxuriös wie unser Zimmer in Agadez, aber es ist besser als nichts. Hier lassen einen die Libyer wenigstens in Frieden.«
»Bald ist es vorbei!«, tröstete ihn Babatunde. »Heute Abend sind wir hier weg. Dann können uns diese Gaddafis mal.«
Yoba blieb wie angewurzelt stehen. »Soll das heißen, ihr habt Tickets für ein Boot?«
Babatunde nickte. »Ja, um Mitternacht geht’s los!«
»Ab nach Europa!«, ergänzte Sunday fröhlich. »Sorry, Kleiner, aber ab jetzt musst du dich wieder selbst um deinen Bruder kümmern.«
Die Nachricht versetzte Yoba einen Stich. Babatunde und die anderen würden nach Europa gehen, während Chioke und er ohne Geld weiter hier festsitzen würden. Mit hängenden Schultern folgte er ihnen in die Ruine.
»Sieh mal einer an: Wer kommt denn da?«, staunte Maurice, als Yoba die verfallene Pumpstation durch ein Loch in der Mauer betrat. »War es dir in der Wüste etwa zu einsam?« Der Kameruner erhob sich von seinem Lager und schüttelte Yoba grinsend die Hand. »Alle Achtung, Kleiner! Ein bisschen mager und schmutzig – aber immer noch quicklebendig, wie ich sehe!«
Wie Yoba erfuhr, war Maurice in Agadez doch nicht ernsthaft krank gewesen. Nach seiner Genesung hatten die Freunde den libyschen Menschenschleuser dazu gezwungen, ihre verfallenen Tickets gegen neue zu tauschen.
»Und darauf hat er sich eingelassen?«, fragte Yoba ungläubig.
Babatunde lachte. »Wir haben dem Mistkerl keine Wahl gelassen! Wir haben uns auf seine Türschwelle gehockt und damit gedroht, so lange sitzen zu bleiben, bis wir verhungert sind.«
»Stimmt«, schmunzelte Sunday. »Es hat zwar ein bisschen gedauert, aber am Ende hat der Geizhals neue Fahrscheine rausgerückt. Zwei Tage später sind wir los.«
Chioke holte ein Stück hartes Fladenbrot von seinem Platz und hielt es Yoba hin. Yoba lächelte dankbar und griff zu.
»Du hast gesagt, du hättest Kutu gesehen?«, erkundigte sich Babatunde. Er reichte Yoba eine mit trübem Wasser gefüllte Plastikflasche. »Was hat unser Gorilla diesmal angestellt? Hat er wieder Ärger wegen einer Frau?«
Yoba nahm einen hastigen Schluck. Prompt verschluckte er sich. Er hustete und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
»Sie haben –« Eine weitere Hustenattacke stoppte ihn. Babatunde klopfte ihm auf den Rücken. Als Yoba endlich wieder Luft bekam, nahm er einen neuen Anlauf.
»Die Polizei hat Kutu mitgenommen!«, stieß er aufgeregt hervor. »Wir müssen ihm helfen!«
»He, he, nicht so schnell!«, beruhigte ihn Babatunde. »Kutu ist zum Markt zurück, weil ihm der
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