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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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erkannte die Flüchtlinge sofort, denn die einheimischen Libyer waren meist hellhäutig und von kleinerem Wuchs. Außerdem trugen sie blitzsaubere Dschallabas oder gebügelte Hosen, während die Flüchtlinge eher wie Vagabunden aussahen.
    Mit einem Gefühl zwischen Bangen und Hoffen begann Yoba seine Suche. Zuerst versuchte er es im Fischhafen. Er lag unmittelbar am Eingang der Stadt, aber die Fischer auf den bunt bemalten Booten verscheuchten ihn sofort. Wahrscheinlich hatten sie Angst vor Schwierigkeiten. Also machte er sich auf den Weg in Richtung Altstadt. Da er die arabischen Schilder nicht lesen konnte, ging er einfach drauflos. Unterwegs fragte er jeden, den er für einen Flüchtling hielt, ob er einen zwölfjährigen nigerianischen Jungen gesehen habe. Einige reagierten verärgert, andere wiederum sahen sich misstrauisch über die Schulter, als fürchteten sie eine Falle. Die Flüchtlinge aus Schwarzafrika waren im Stadtbild allgegenwärtig. Sie streiften ziellos in den Gassen umher, lagerten am Strand oder kampierten mit ihrer armseligen Habe in der Nähe des Fußballstadions. Nach den ständigen Plünderungen auf der Reise war ihnen nicht viel geblieben. Viele machten einen verzweifelten, beinahe apathischen Eindruck, als Yoba sie ansprach. Erfolg hatte er nicht. Wen er auch fragte, niemand hatte einen afrikanischen Jungen in einem rot-blau gestreiften Fußballtrikot gesehen.
    Frustriert ließ sich Yoba am Straßenrand nieder. Er war am Boden zerstört. Nicht einen einzigen ihrer damaligen Mitreisenden hatte er auftreiben können. Dabei hatte er so sehr gehofft endlich etwas über das Schicksal seines Bruders zu erfahren. Ganz egal wie grausam die Wahrheit auch sein mochte – alles war leichter zu ertragen als diese bohrende Ungewissheit.
    Seine eigene Situation war auch nicht besser. Er hatte sich in eine ausweglose Lage manövriert. Nun saß er in einem Land fest, dessen Schrift er nicht einmal lesen konnte. Er hatte weder das nötige Geld für die Heimreise nach Nigeria noch für die Überfahrt nach Europa. Von einem gültigen Ausweis einmal ganz abgesehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihn die Polizei aufgreifen und er im Gefängnis landen würde. Die in der Wüste liegengebliebenen Heimkehrer hatten wahre Horrorgeschichten über die libyschen Gefängnisse erzählt. Eigentlich konnte er nur hoffen vorher zu verhungern.
    Wie auf Stichwort meldete sich Yobas leerer Magen zu Wort. Er presste beide Fäuste auf seinen Bauch, um den stechenden Schmerz zu unterdrücken. Er musste dringend etwas essen. Seine letzte Mahlzeit lag bereits vierundzwanzig Stunden zurück. Ihm wurde schon ganz schwindelig. Dann entdeckte er den Orangenhändler. Der alte Greis schob einen quietschenden Karren vor sich her, auf dem er seine Früchte zu einer orange leuchtenden Pyramide aufgeschichtet hatte. Alle paar Meter stellte er den Karren ab und pries in einemlauten Singsang seine Ware an, woraufhin Hausfrauen mit Körben in den Händen aus ihren Häusern eilten.
    Yoba wusste, dass das, was er vorhatte, nicht unbedingt fair war. Der alte Mann konnte sich schließlich nicht wehren, aber er würde es verschmerzen. Als der Straßenhändler mit seinem Karren nahe genug herangekommen war, sprang Yoba auf. Er griff sich hastig eine Handvoll der reifen Früchte und rannte davon. Hinter ihm fiel die kunstvoll arrangierte Pyramide in sich zusammen und die Orangen kullerten in die staubige Gasse. Yoba rannte, was das Zeug hielt. Der Obsthändler schrie ihm etwas nach, was er nicht verstand, aber das wollte er auch gar nicht. Er hoffte nur, niemand würde ihm wegen ein paar Orangen folgen. Zur Sicherheit lief er so lange, bis ihm die Puste ausging. Als er sich endlich traute einen Blick zurück zu werfen, konnte er keine Verfolger ausmachen.
    Erleichtert und völlig außer Atem ließ sich Yoba auf ein paar Steinstufen niedersinken. Er wollte sich gerade über seine Beute hermachen, da brach nicht weit von ihm ein wildes Geschrei los. Zuerst dachte Yoba, dass er vielleicht doch verfolgt wurde. Aber dann merkte er, dass die Aufregung nicht ihm galt.
    Die Leute strömten auf der anderen Straßenseite zu einem Pulk zusammen. Sie hielten einen Mann fest, während eine Frau wie am Spieß schrie. Yoba hatte nicht gesehen, was vorgefallen war, aber als er erkannte, wer der Mann war, den die Leute da in ihrer Mitte eingekreist hatten, blieb ihm fast das Herz stehen: Es war Kutu! Der Freund von Babatunde, Maurice und Sunday!
    Zu Kutu

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