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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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hinüberzulaufen wagte Yoba nicht, denn die Menschenmenge schien sehr wütend und zu allem bereit zu sein. Immer wieder stießen sie Kutu zu Boden, und als er fliehen wollte, stürzten sie sich auf ihn. Erst jetzt sah Yoba einen zweiten Mann. Er lag auf der Straße und seine weiße Dschallaba hatte einen großen, roten Fleck auf der Brust, aus dessen Mitte der Griff eines Messers herausragte.
    Die Orangen hatte Yoba längst vergessen. Mit offenem Mund verfolgte er, wie die libysche Polizei eintraf und Kutu aus der Gewalt der wütenden Menge befreite. Dabei machten sie ausgiebig Gebrauch von ihren Schlagstöcken. Kutu hingegen ließ sich widerstandslos Handschellen anlegen und auf einen Jeep verfrachten. Als der Wagen anfuhr, erwachte Yoba aus seiner Schockstarre und rannte hinter dem Jeep her.
    »Kutu!«, schrie er aus Leibeskräften. »Halt! Wartet!«
    Ein Pritschenwagen gefüllt mit Melonen zwang den Polizei-Jeep zum Abbremsen, dann bog er in einen Kreisverkehr ein. Yoba schlängelte sich durch die hupenden Autos hindurch und schnitt dem Jeep den Weg ab, indem er die Verkehrsinsel in der falschen Richtung umrundete. Er erwischte ihn noch vor der Ausfahrt.
    »Kutu!«, keuchte er, während er neben dem Jeep herlief. »Wo sind die anderen? Ist Babatunde auch hier?«
    Der schwarze Riese saß mit versteinertem Gesicht zwischen zwei Polizisten auf der Rückbank. Er zeigte keinerlei Reaktion. Dafür zielte einer der Polizisten mit seiner Kalaschnikow auf Yoba.
    »Verschwinde!«, rief er, doch Yoba dachte gar nicht daran. Weil er nicht mehr mithalten konnte, klammerte er sich an die Seitenwand des Jeeps.
    »Hast du meinen Bruder gesehen?« Yoba schrie beinahe, so aufgeregt war er. »Bitte, wenn du etwas weißt, musst du es mir sagen!«
    Kutu hob den Kopf. Einen Augenblick lang sah er Yoba nur verständnislos an, doch dann nickte er. Yoba blieb erneut fast das Herz stehen. In diesem Moment schlug ihm der Polizist mit dem Gewehrkolben auf die Finger. Yoba stieß einen Schmerzensschrei aus und ließ los. Er fiel auf die Straße, Autos bremsten und erboste Fahrer überschütteten ihn mit wüsten Schimpftiraden. Yoba nahm nichts davon wahr. Stattdessen rappelte er sich auf und brüllte dem Jeep hinterher. »Wo? Wo muss ich suchen?«
    Kutus donnernde Stimme übertönte den Verkehrslärm. »Am Kanal!«
    Dann beschleunigte der Jeep und fuhr davon.

39.
    Chioke lebte vielleicht! Yoba stand wie vom Blitz getroffen inmitten des lärmenden Verkehrs. Er fühlte sich wie in einem Film. Die hupenden Autos, die wutverzerrten Gesichter der Autofahrer, all das war ganz weit weg. Auch die Schürfwunde an seinem Ellbogen spürte er nicht. Dafür rasten die Gedanken in seinem Kopf. Welchen Kanal hatte Kutu gemeint? Vielleicht gab es mehrere in dieser Stadt, und wie sollte er sie in diesem weitläufigen Häuserlabyrinth finden? Plötzlich hatte er einen Einfall: Wenn Kutu wirklich einen Kanal gemeint hatte, dann würde er mit ziemlicher Sicherheit im Meer enden. Also musste er nur am Strand entlanglaufen und allen Kanälen von ihrer Mündung aus durch die Stadt folgen.
    Yoba machte sich sofort auf den Weg. Er hatte sich entschieden am Strand zuerst nach Westen zu laufen, danach wieder zurückzukehren und es dann in der anderen Richtung zu versuchen. Die Einheimischen schauten ihm mit verwunderten Blicken hinterher. Sie mussten ihn für einen Verrückten halten, denn nur ein Mensch ohne Verstand würde bei dieser Hitze den Strand entlangrennen. Yoba war das gleichgültig. Die Aussicht, dass sein Bruder noch leben könnte, verlieh ihm Flügel. Er hoffte nur, dass es in Zuwarah nicht allzu viele Abwasserkanäle gab.
    Yobas Sorge erwies sich schnell als unbegründet. Es gab nur einen offenen Abwasserkanal und den roch er schon aus einem halben Kilometer Entfernung. Aus der Betonrinne ergoss sich eine stinkende Brühe mitten ins Meer. Für die allgegenwärtigen Fliegen schien die mit Ölschlieren und gelblichem Schaum bedeckte Kloake ein wahres Schlaraffenland zu sein.
    Yoba hielt sich die Nase zu und folgte dem Kanal landeinwärts. Beinahe hätte er den Jungen übersehen. Er hockte auf dem Betonrand über dem stinkenden Rinnsal und stocherte an einer toten Ratte herum. Seine Haare waren vom Staub fast weiß, seine Kleidung und seine nackten Füße starrten vor Schmutz. Dann traf es Yoba wie ein Schlag: Das war sein Bruder!
    »Chi…!« Seine Stimme versagte.
    Chioke erhob sich und drehte sich zu ihm. Für einen kurzen Moment schien der Schleier zu

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