Der Schrei des Löwen
jetzt los«, meinte Yusuf. »Noch kannst du mitkommen. Überlege es dir gut.«
Der Lkw hatte seine Passagiere nach stundenlanger Fahrt entlang der Küste an einem schmalen, mit Plastikmüll übersäten Strand abgesetzt. Er lag unmittelbar neben der Küstenstraße und in Sichtweite einer Hafenstadt. Danach war der leere Laster weitergefahren. Um kein Aufsehen zu erregen, sollten die Flüchtlinge das letzte Stück zu Fuß zurücklegen und die Stadt nur in kleinen Gruppen betreten. Wie ihnen die beiden Fahrer zum Abschied eingeschärft hatten, mochte es die libysche Polizei nicht, wenn Flüchtlinge in einer großen Meute durch die Gegend liefen.
»Ich komme schon allein zurecht«, schlug Yoba das gut gemeinte Angebot aus. Das Meer ließ ihn einfach nicht los. Er wollte eine Weile einfach nur dasitzen und es anschauen. Außerdem hatte er vor, seinen Bruder zu suchen oder zumindest jemanden, der mit ihm auf dem Lkw war. Und dabei konnte ihm der Koch wenig helfen.
»Geht ruhig ohne mich!« Hinter Yoba rauschte der Verkehr über die Küstenstraße. »Ich bleibe noch ein bisschen hier sitzen. Wir treffen uns dann in der Stadt – oder drüben in Europa!«
Yoba versuchte ein Lächeln, was ihm jedoch nicht wirklich gelang. Er hatte noch nicht einmal Geld, um sich etwas zu essen zu kaufen. Wie sollte er da über dieses Meer kommen?
»Wie du willst – es ist deine Entscheidung.« Yusuf drückte die Aktentasche an sich. »Dann wünsche ich dir Allahs Segen, damit du deinen Bruder findest.«
Yusuf wandte sich zum Gehen.
»Warte!«, rief Yoba. »Ich … ich wollte dir noch was sagen.« Er trat verlegen von einem Bein auf das andere. »Ich wollte dir danken. Ohne dich hätte ich bestimmt nicht mitfahren dürfen. Vielleicht wäre ich sogar verhungert.«
Yusuf stellte die Aktentasche zwischen seine Füße und legte Yoba die Hand auf die Schulter. »Viel Glück, mein Junge!«
Dann nahm er die Tasche mit seinen Dokumenten wieder auf und gesellte sich zu der letzten Gruppe von ihrem Lkw. Alle anderen hatten sich bereits entlang der viel befahrenen Straße auf den Weg in die Stadt gemacht.
Yoba biss sich auf die Unterlippe und wandte sich wieder dem Wasser zu. Etwa hundert Meter von ihm entfernt hatten sich zwei Jungs mit selbst gebastelten Angeln auf demschmalen Strandstreifen eingefunden. Ihre verstohlenen Blicke schwankten zwischen Neugier und Abscheu. Erst jetzt wurde sich Yoba bewusst, dass er wie ein Gespenst aussehen musste. Seine vor Schmutz starrende Hose war ebenso zerrissen wie sein blaues Fußballtrikot, und sein Gesicht war unter der klebrigen Schicht aus Schweiß und Wüstensand wahrscheinlich gar nicht mehr zu erkennen.
Für einen kurzen Moment überlegte Yoba, ob er nicht ins Meer springen sollte. Aber er traute sich nicht. Obwohl er wirklich gut schwimmen konnte, denn schließlich war er in einem Dorf am Ufer des Imo aufgewachsen. Aber das hier war eindeutig etwas anderes. Nicht nur wegen der zwei Jungs, die ihn weiter unverhohlen angafften. Er konnte das Gefühl nicht näher bestimmen: Das Meer war ihm unheimlich.
Also begnügte er sich damit, sein Gesicht und seine Arme vom Dreck der Wüste zu befreien. Dabei machte er die überraschende Erfahrung, dass Salzwasser nicht nur übel schmeckte, es brannte auch höllisch in den Augen. Yoba hörte die beiden einheimischen Jungen hämisch lachen. Wütend kickte er eine angespülte Plastikflasche zur Seite und setzte sich in den grobkörnigen Sand. Er holte sein grünes Büchlein und den Bleistiftstummel hervor und begann mit geröteten Augen zu schreiben. Als er fertig war, verstaute er das Buch wieder sorgfältig in seinem Hosenbund. Anschließend brach er in die nahe gelegene Stadt auf.
Zuwarah entpuppte sich als eine in jeder Hinsicht gewöhnliche Hafenstadt. Sie war weder besonders groß noch besonders hübsch. Auffällig war allein der viele Verkehr auf den schachbrettartig angelegten Straßen. Das war der Nähe zurtunesischen Grenze zu verdanken. Seitdem die Tunesier die Flüchtlingsboote nicht mehr von ihren Stränden starten ließen, hatte man den Ausgangspunkt hierher über die Grenze nach Libyen verlegt. Wie man Yoba erklärt hatte, kamen die Boote allerdings weiterhin aus Tunesien.
Yoba versuchte sich zu orientieren. Wie sollte er an diesem unübersichtlichen Ort seinen Bruder oder jemanden vom ersten Lkw finden? Er konnte lediglich die Augen offen halten und jeden fragen, der irgendwie nach einem Afrikaner auf dem Weg nach Europa aussah. Man
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