Der Schuldige: Roman (German Edition)
größer und schwerer‹. Ich behaupte, Mr. Rankine, dass die Person, die Sie später an dem Nachmittag gesehen haben, nicht Sebastian Croll war, dem Sie zuvor die Mahnung zugerufen hatten, sondern in Wirklichkeit jemand ganz anderer. Könnte das sein?«
»Hm, damals war ich sicher …«
»Mr. Rankine, Sie stehen unter Eid. Wir kennen Ihre Kurzsichtigkeit und wissen, wie weit entfernt Sie von den beiden Personen waren, die Sie um halb vier oder vier Uhr an jenem Tag gesehen zu haben behaupten. Könnten Sie nicht jemand anderen zusammen mit dem Opfer gesehen haben, vielleicht sogar einen Erwachsenen?«
»Ja«, sagte Rankine endlich und schien in dem Zeugenstand zusammenzusacken. »Das ist möglich.«
»Danke«, sagte Irene. Sie war drauf und dran, sich zu setzen, aber der Zeuge blieb stehen und schüttelte den Kopf.
»Ich wäre glücklich, wenn ich mich geirrt habe«, sagte Rankine. »Wenn ich ihn nie gesehen habe, konnte ich auch nie das Geschehen aufhalten. Glücklich, mich geirrt zu haben.«
»Danke, keine weiteren Fragen, Euer Ehren.« Irene zog ihre Robe unter sich glatt, ehe sie sich setzte.
»Irene ist eine ziemlich gute Anwältin«, flüsterte Sebastian Daniel zu, als die Geschworenen entlassen worden waren und er jeden Moment wieder hinunter zu den Zellen gebracht werden konnte. »Er hat mich niemals auf dem Spielplatz gesehen. Er hat jemand anderen gesehen.«
Daniel fühlte einen Schauer. Er legte Sebastian eine Hand auf die Schulter, als der Polizeibeamte näher kam. Er war sich sicher, dass der Junge alles, was vorging, voll und ganz begriff.
Irene sah Daniel mit erhobenen Augenbrauen an, als sie den Saal verließ.
Daniel arbeitete bis spät im Büro und kam erst nach acht zu Hause an. Er schloss seine Wohnungstür und lehnte die Stirn gegen den Rahmen. Die Wohnung roch unbelebt. Er schaltete die Heizung ein und machte sich eine Tasse Tee, wechselte von seinem Anzug in Jeans und ein T-Shirt und steckte eine Unmenge Sachen zum Anziehen in die Waschmaschine.
Er rief Cunningham an, Minnies Anwalt, um zu erfahren, wie es mit dem Haus voranging, aber dessen Handy war auf Mailbox geschaltet. Genau in dem Moment hörte er es an der Tür klopfen. Daniel nahm an, es sei ein Nachbar, weil es von der Straße aus ein Einlasssystem mit Summer gab. Er öffnete die Tür und sah einen kleinen, dicken Mann mit einem iPhone vor sich stehen, das er wie ein Mikrofon in die Höhe hielt.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Daniel stirnrunzelnd, zwei Finger in die Gesäßtasche seiner Jeans gehakt.
»Sie sind Daniel Hunter, der Anwalt des Engelmörders«, sagte der Mann. »Würde es Ihnen was ausmachen, mit mir zu reden? Ich bin von der Mail .«
Daniel fühlte, wie Wut, heiß und rasch, seine Muskeln durchströmte. Er lachte kurz auf und trat auf die Türschwelle. »Was fällt Ihnen ein. Wie haben Sie mich gefunden …?«
»Im Wählerverzeichnis«, sagte der Mann ausdruckslos.
Daniel bemerkte sein zerknittertes Hemd und die nikotingelben Finger. »Verlassen Sie sofort das Haus, bevor ich die Polizei rufe.«
»Das hier ist ein öffentliches Treppenhaus …«
»Es ist mein Treppenhaus, raus!«, sagte Daniel so laut, dass es im Flur widerhallte. Er hörte den nördlichen Tonfall in seiner Stimme. Immer wenn er wütend war, wurde sein Akzent stärker.
»Wir bringen ohnehin einen Artikel über Sie. Könnte vielleicht günstiger für Sie sein, wenn Sie was sagen«, meinte der Mann, wieder völlig ausdruckslos, blickte weg, um auf sein Handy zu drücken und, wie Daniel vermutete, ihre Unterhaltung aufzunehmen.
Diese Aktion schien in Daniel etwas auszulösen. Es war Jahre her, dass er jemanden geschlagen hatte oder auf diese Weise tätlich geworden war. Er packte den Mann am Kragen und rammte ihn gegen die Wand im Treppenhaus. Das Handy krachte auf den Boden.
»Muss ich’s Ihnen noch mal sagen?«, fragte Daniel, das Gesicht dicht an dem des Mannes. Er roch feuchten Regenmantel und Menthol-Kaugummi.
Der Mann entwand sich seinem Griff, bückte sich eilig, um das Handy aufzuheben, und fiel fast die Treppe zur Haustür hinunter. Daniel wartete auf dem Treppenabsatz, bis er die Haustür ins Schloss fallen hörte.
Drinnen lief er in der Diele hin und her und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Mit der offenen Handfläche schlug er gegen die Wand.
Er ging ins Wohnzimmer und fluchte leise vor sich hin. Er sah Minnies Foto auf seinem Kaminsims und stellte sich vor, was sie jetzt zu ihm sagen würde. Warum muss ein kluger
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