Der Schuldige: Roman (German Edition)
entfernt gewesen, als ihre Zeit kam. Er hätte zu ihr kommen können; er hätte ihr helfen können, aber sie war gestorben, ohne dass sie wusste, dass er in ihrer Nähe war. Sie war clean geworden in dem Jahr, als sie ihn verlor. Er fragte sich, ob sie clean geworden war, damit sie ihn hätte zurückbekommen können. Sein achtzehnter Geburtstag war herangekommen und verstrichen. Vielleicht hatte sie die Hoffnung verloren. Vielleicht hatte sie gedacht, er habe eine andere Familie und erinnere sich nicht mehr an sie.
Irgendjemand musste ihren Grabstein bezahlt haben, irgendjemand musste den weißen Marmor ausgesucht und sich für den Text entschieden haben. Er erinnerte sich an den Namen auf der Sterbeurkunde: Informant – Michael Parsons. Daniel erinnerte sich an alle Namen und Gesichter, die das Leben seiner Mutter angefüllt hatten. Er ließ den Kopf hängen. Sein Atem ging ungleichmäßig, aber er konnte nicht weinen. Die Trauer, die er um sie fühlte, war gering und zerbrechlich. Es war eine Trauer, die mit so vielem anderen vermischt war. Unsichtbare Vögel sangen mit einem Lärm, der ohrenbetäubend schien.
Daniel erhob sich. Er fühlte einen scharfen Schmerz in seinem Kopf. Er drehte sich um und ging aus dem Friedhof, und nach seiner langsamen und geduldigen Entdeckung zermalm ten seine Füße absichtsvoll die roten Steinchen. Die Sonne schien hell und in seine Augen. Seine Muskeln waren ange spannt, und er fühlte einen kalten Schweißtropfen zwischen seinen Schulterblättern herabrinnen.
Er erinnerte sich an den Tag, an dem Minnie ihm gesagt hatte, seine Mutter sei tot, und presste seine Lippen zusammen. Sein Kiefer schmerzte.
Er würde zurück nach Brampton gehen und sie töten.
27
Daniel zückte vor den Old-Bailey-Wachposten kurz seinen Passierschein, als er das Gerichtsgebäude betrat. Es war der erste Tag der Verteidigung. Er reckte sein Kinn in die Höhe, als er auf den Gerichtssaal 13 zuging und sich der Gnadenfrist erinnerte, die ein begründeter Zweifel in sich barg. Ihm wurde klar, dass er zum ersten Mal in seiner Laufbahn wirklich echte Furcht vor der Aussicht verspürte, dass er verlieren könnte. Er hasste Sebastians Familie und machte sich Sorgen um den Jungen, wenn er in diese Welt materieller Privilegien und emotionaler Verarmung zurückkehrte, aber die Vorstellung von Sebastian drinnen, im Innern des Strafsystems, war schlimmer. So intelligent der Junge auch war, ihm war nicht klar, wie weit die Presse ihn bereits dämonisiert hatte und wie schwer es für ihn für den Rest seines Lebens werden würde, sollte er schuldig befunden werden. Daniel versuchte, nicht darüber nachzudenken. Er glaubte an Irenes Fähigkeiten. Seit ihrer beider Niederlage im Fall Tyrel im Jahr zuvor hatte sie nicht einen einzigen Prozess verloren.
»Euer Ehren, ich rufe Dr. Alexander Baird auf.«
Baird schien so nervös zu sein wie an dem Tag, als Daniel den Psychologen in seinem Büro besucht hatte. Er beugte sich zu dicht zu dem Mikrofon vor, als er vereidigt wurde, und erschrak über die Rückkopplung. Irene begann mit ihrer Vernehmung ganz sachlich. Sie lächelte Baird offen an und vollführte weite, schwungvolle Gesten zum Gericht hin, als sie ihn bat, seine Gedanken über Sebastian mitzuteilen.
»Dr. Baird, Sie haben Sebastian Croll im September 2010 zweimal untersucht. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Ich möchte Sie bitten, für das Gericht zusammenzufassen, welchen Eindruck Sie von Sebastian bekommen haben.«
Baird trat nahe an das Mikrofon heran, und seine weichen Hände umfassten lose die Brüstung des Zeugenstands. »Was seinen Intellekt betrifft, fand ich ihn hochintelligent. Sein IQ wurde mit 140 gemessen, was sicherlich auf eine sehr hohe Intelligenz oder in der Tat auf einen Grenzbereich zur Genialität schließen lässt – sicherlich aber auf eine Hochbegabung.«
»Was fanden Sie über Sebastians emotionale Reife und sein Verständnis komplexer Prozesse heraus, zum Beispiel von Gerichtsverhandlungen?«
»Nun ja, Sebastian scheint eine recht kurze Aufmerksamkeitsspanne zu besitzen, was wiederum auf seine hohe Intelligenz zurückgeführt werden kann, aber ich fand, dass er zu Gefühlsausbrüchen neigte, wie sie eher für ein jüngeres Kind typisch sind.«
»Sie haben ihn über die mutmaßliche Straftat befragt. Welche Ansicht haben Sie über Sebastian hinsichtlich der Beschuldigung?«
»Sebastian kannte den Unterschied zwischen richtig und falsch. Er verstand, worum es bei der mutmaßlichen
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