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Der Schuldige: Roman (German Edition)

Der Schuldige: Roman (German Edition)

Titel: Der Schuldige: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Ballantyne
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bedient hatte, rief zu ihm herüber: »Tut mir leid, wir schließen zur Mittagspause. Könnten Sie bitte später wiederkommen?«
    »Ich hätte nur … eine Frage, nur eine, ich schwör’s.«
    Sie lächelte und kam zurück an den Schalter. »Ich werde noch Ärger kriegen«, sagte sie, und ihre Augen funkelten ihn an.
    Daniel tat sein Bestes, um mitzuspielen, obwohl er sie am liebsten geschüttelt hätte. »Vielen Dank, Sie sind großartig.« Die Lider der Standesbeamtin senkten und hoben sich. »Ich wollte nur nachprüfen … Auf dieser Urkunde steht 1993, aber meine Mum ist spätestens 1988 gestorben.«
    »Wirklich? Das ist merkwürdig.«
    »Könnten Sie einen Fehler gemacht haben?«, fragte Daniel. Er fühlte, wie sich seine Augen in Panik weiteten, und versuchte trotzdem, vor ihr ruhig zu bleiben.
    »Also nein, ich meine … das ist die offizielle Sterbeurkunde Ihrer Mutter. Sind Sie sicher, dass sie 1988 gestorben ist?«
    »Ja …«, sagte er und dann: »Nein …«
    »Na, dann stimmt sie, nehme ich an.«
    »Wie finde ich raus, ob sie einen Grabstein bekommen hat?«
    »Da müssen Sie mit der Stadtverwaltung sprechen, erinnern Sie sich?«
    Das Mädchen lächelte und schürzte entschuldigend die Lippen. Daniel drehte sich um und ging. Als er draußen war, war die Urkunde in seiner Hand zerknittert, obwohl er sie nicht zerdrücken wollte.
    Daniel wartete, dass die Stadtverwaltung wieder aufmachte. Sein Magen knurrte und krampfte sich zusammen, aber er achtete nicht darauf. Er setzte sich für zehn Minuten auf die Treppe, dann ging er einmal um den Block, ehe er wieder zurückkam. Dreimal las er das Schild, auf dem stand, dass zwischen eins und zwei Uhr geschlossen war.
    Als aufgemacht wurde, verwies man ihn an die Hinterbliebenenberatung, wo er zwanzig Minuten warten musste, obwohl er der Erste in der Schlange war.
    »Ich würde gern erfahren, ob meine Mutter einen Grabstein hat – ich glaube, sie ist verbrannt worden … ich habe ihre Sterbeurkunde.«
    »Wie ist ihr Name?«
    Daniel wartete in einem Plastikstuhl, und seine Bauchmuskeln waren so angespannt, dass sie zu schmerzen begannen. Die Universität hatte er vergessen. Das hier war alles, was ihn interessierte.
    Er erwartete, er würde noch mehr Formulare ausfüllen, seinen Ausweis vorlegen oder sich von Geld trennen müssen. Die Frau kam nach wenigen Minuten zurück. Sie sagte ihm, der Name seiner Mutter finde sich auf keiner der Kremierungs listen. Sie habe alles genau nachgeprüft und herausgefunden, dass seine Mutter auf dem Friedhof Jesmond Road beerdigt worden sei.
    Daniel meinte, er habe sich bei ihr bedankt, aber dann fragte sie ihn laut, ob mit ihm alles in Ordnung sei. Er stand da, hielt sich mit den Fingern an dem Schreibtisch fest, und die Sterbeurkunde knüllte sich in seiner Hand zusammen.
    Hinter der Jesmond Road sah Daniel den Friedhof. Einer spontanen Idee folgend hatte er Nelken gekauft, die er in einer Plastiktüte trug, die Blüten nach unten.
    Der Eingang ragte vor ihm auf: ein roter Sandsteinbogen, der schön und erschreckend zugleich war. Er blieb einen Moment davor stehen und kickte Steinchen aus seinem Weg. Er fühlte, wie er durch den roten Bogen hineingezogen wurde, und als er drinnen war, war das Bedürfnis, weiterzugehen, mächtig. Er wusste nicht, wo sie lag oder ob er sie finden würde, aber kaum war er eingetreten, fühlte er, wie sich ein strenger Frieden auf ihn senkte. Sein Herz war ruhig. Auf der Suche nach ihrem Namen ging er von einem Grab zum anderen. Er suchte systematisch, sorgfältig, ohne Enttäuschung, wenn er schon wieder eine Gräberreihe abgeschritten hatte, ohne ihren Namen zu finden, und ohne vorschnelle Erleichterung, wenn er Gräber fand, in die ähnliche Namen gemeißelt waren.
    Schließlich, kurz nach vier Uhr, fand er sie: Samantha Geraldine Hunter 1956 – 1993. Ruhe in Frieden.
    Schon begannen die schwarz gemalten Buchstaben abzublättern. Daniel versuchte, sie sich vorzustellen mit ihren mageren Schultern und den langen Fingernägeln. Sie war ein Kind in seiner Vorstellung. Er überlegte, wie jung sie gewesen war, als er sie das letzte Mal gesehen hatte.
    Er blieb einen Augenblick stehen, dann kniete er sich hin und fühlte das Gras nass durch seine Jeans hindurch. Er wischte ein paar frische Regentropfen von dem Marmor und stellte sich ihre zarten Knochen darunter vor. Er legte die Nelken an den Fuß des Kreuzes.
    1993 . Sie war erst vor wenigen Monaten gestorben. Er wäre weniger als eine Stunde von ihr

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