Der Schuldige: Roman (German Edition)
was kam, ins Auge zu sehen. Er fragte sich, ob sie versucht hatte, für ihn clean zu werden, ob die Furcht, ihn zu verlieren, sie von den Drogen abgeschreckt hatte. Aber wenn es keine Überdosis gewesen war, fragte sich Daniel, warum war sie dann so jung gestorben? Er dachte an die Männer in ihrem Leben und biss die Zähne zusammen.
Er hatte eine Überarbeitung vorzunehmen, aber er stand am nächsten Morgen auf und nahm den Zug nach Newcastle. Die Rückkehr war ein merkwürdiges Vergnügen. Als der Zug einfuhr, blickte er in Richtung Norden auf den Stadtteil Cowgate. Die Stadt schien ihm noch immer unter den Nägeln und zwischen den Zehen zu sitzen. Sein Schritt war anders, wenn er hier war: Er hielt den Kopf gesenkt und die Hände in den Taschen, aber er wusste instinktiv, wohin er gehen musste. In Newcastle war er nicht mehr gewesen seit dem Tag, an dem Minnie ihn adoptiert hatte. Er spürte eine köstliche, mit sich im Streit liegende Erregung, als begehe er etwas Unerlaubtes, aber zu Hause.
Er wusste nicht, wo das Standesamt war, aber er fragte in der Zentralbibliothek. Es lag in der Surrey Street, und er ging sofort dorthin. Er hatte den vollen Namen seiner Mutter und ihr Geburtsdatum aufgeschrieben, wie er es in Erinnerung hatte.
Das Standesamt war ein viktorianischer Bau aus blassem, ungestrahltem Sandstein. Es schien mit angemessener Resignation den Ruß von Jahrzehnten auf sich genommen zu haben. Die Korridore waren anstaltsartig, städtisch, gerade eben noch sauber. Daniel fühlte sich ein wenig gehemmt, als er zu dem Schalter ging. Es war wie bei seinem ersten Besuch in der Universitätsbibliothek, wie bei seinem ersten Tutorium, bevor er erkannte, dass er wirklich genug wusste und ein Recht hatte, dort zu sein. Er hatte ein langärmeliges Fußballhemd und Jeans an. Er blieb auf der Treppe stehen, um sein Haar nach hinten zu streichen, das vorn lang wurde und ihm ins Gesicht zu fallen begann. Drinnen ging er auf die Herrentoilette und stopfte sein Hemd in die Hose und zog es dann wieder heraus. Wäh rend er in der Schlange wartete, fragte er sich, woher seine Beklemmung kam: Entweder rührte sie daher, dass er drauf und dran war, sich nach der Toten zu erkundigen, oder weil er von der Toten verlassen worden war.
Verlassen.
Als er an die Reihe kam, trat Daniel an den Schalter. Plötzlich fühlte er sich verleugnet, ausgestoßen. Er erinnerte sich an die langen Fingernägel seiner Mutter, die tack, tack, tack auf dem Tisch machten.
»Ja, kann ich Ihnen helfen?«
Die Standesbeamtin war jung. Sie stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Schreibtisch und lächelte zu Daniel hoch.
»Ja, ich hätte gern eine Kopie der Sterbeurkunde meiner Mutter.«
Formulare wurden ausgefüllt, und Daniel musste warten, aber dann wurde ihm die Urkunde, zusammengefaltet, in einem sauberen weißen Umschlag ausgehändigt. Er dankte der jungen Standesbeamtin und ging. Er wagte nicht, den Umschlag zu öffnen, ehe er draußen war, und selbst da fühlte er sich durch die Menschen gehemmt, die sich auf der belebten Straße an ihm vorbeidrängten.
Es gab eine altmodische Teestube abseits der Pinestone Street, und Daniel schlüpfte hinein und bestellte sich einen Kaffee und ein Brötchen mit Schinkenspeck. Ein übergewichtiger Mann mit purpurfarbenen Backen verzehrte eine Fleischpastete und Bohnen, und zwei Frauen mit derselben blond gefärbten Stachelfrisur rauchten Zigaretten.
Vorsichtig faltete Daniel die Urkunde auf. Er schmeckte den Zigarettenrauch der Frauen in seinem Mund. Sein Herz pochte, aber er wusste nicht, warum. Er wusste ja, dass sie tot war, und er konnte sich denken, wie sie gestorben war, dennoch hatte er das Gefühl, als entdecke er etwas Verborgenes. Das Schriftbild tanzte vor seinen Augen. Seine Finger zitterten, und das Papier bebte.
Sie war an einer Drogenüberdosis gestorben, wie Minnie ihm erzählt hatte. Daniel starrte auf die Urkunde und stellte sich die Spritze vor, die kühn aus dem Arm seiner Mutter ragte, während sie ihre Aderpresse aus blauem Gummi losließ, so wie eine Hand eine andere über einer Klippe loslässt.
Seine Augen überflogen einmal und dann gleich noch einmal die Daten: geboren 1956, gestorben 1993 im Alter von siebenunddreißig Jahren.
Er schob sein Brötchen von sich weg, ließ seinen Kaffee stehen und rannte zurück zu dem Standesamt, wo er die Treppe hinaufsprang, als sie gerade zur Mittagspause schlossen.
Er drängelte sich zum Schalter vor. Die junge Frau, die ihn
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