Der Schuldige: Roman (German Edition)
Daniel: Ist ja gut, beruhige dich. Mit dir ist alles in Ordnung, beruhige dich einfach.
Irene wandte sich auf ihrem Platz ein wenig um und warf Daniel einen Blick zu. Er nickte, um ihr zu versichern, dass alles gut gehen werde. Innerlich war er nicht mehr überzeugt.
»Ist es wahr, dass, wenn du Freundschaften schließt, sie immer nur sehr kurze Zeit dauern?«
»Nein.«
»Andere Kinder möchten nicht mit dir zusammen sein, Sebastian, ist das nicht korrekt?«
»Nein.« Der Junge schrie nicht, aber seine unteren Schneidezähne wurden sichtbar. Sie waren winzig und weiß wie die Zähne eines Hechts.
»Ist es nicht wahr, dass, sobald andere Kinder dich genau kennenlernen, sie nicht mit dir befreundet sein möchten?«
»Nein!«
Das Gericht war gebannt. Auf dem Bildschirm waren Sebastians Wangen rot vor Wut.
»Ich habe hier Leitungsberichte aus der Jugendarrestanstalt, in der du im Augenblick in Untersuchungshaft bist. Der Direktor erwähnt ausdrücklich deine Unfähigkeit, mit anderen Kindern auszukommen und Freundschaften zu schließen …«
Irene stand auf. »Euer Ehren, ich muss Einspruch erheben. Mein Mandant ist ein unschuldiger Junge in Untersuchungshaft in einer Jugendarrestanstalt, in der er bei Weitem der Jüngste unter einer Reihe schwer gestörter Jugendlicher ist. Ich würde meinen, es ist naheliegend und für meinen Mandanten anerkennenswert, dass er es schwierig findet, unter diesen Umständen Freundschaften zu schließen.«
Es entstand eine kleine Pause, und Daniel entspannte sich, als beide, Jones und Baron, Irenes Einspruch nachgaben.
»Kommen wir auf das Thema von Bens Ermordung zurück … Mord ist immerhin etwas, was dich interessiert. Du hattest Ben Stokes’ Blut an deiner Kleidung und an deinen Schuhen: Was für ein Gefühl war das?«
»Was meinen Sie damit?« Sebastians Wut ließ für einen Moment nach, als er sich in Jones’ abstrakten Gedankengang hineinzudenken versuchte.
»Nun, als sich Ben angeblich die Nase aufschlug und sein Blut auf deine Kleider und Schuhe kam, was für ein Gefühl war das?«
»Okay. Es war nur Blut. Jeder Mensch hat Blut.«
»Ich verstehe, du fühltest dich also recht gut mit Bens Blut an dir, als du nach Hause gingst?«
»Ich fühlte mich okay. Es war einfach etwas Natürliches.« Sebastian blickte nach oben, als erinnere er sich. Sein schwaches Lächeln war wieder da.
»Und als Ben verletzt war, wie fühltest du dich da?«
»Also, er hatte sich verletzt. Nicht ich. Ich fühlte nichts.«
»Was meinst du, was Ben gefühlt hat?«
»Na ja, er ist runtergefallen und hat geblutet, aber das passiert manchmal, wenn man sich die Nase einschlägt. Manch mal … muss man jemanden gar nicht sehr hart treffen … manchmal reicht eine Ohrfeige, und schon fängt die Nase an zu bluten. Nasen sind ziemlich empfindlich.«
Daniel spürte einen Schmerz in seinem Zwerchfell. Sebastian schien so weit weg zu sein. Es war, als befinde er sich hinter dem Bildschirm in einer anderen Dimension, verloren für all ihre Bemühungen, ihn zu retten. Er war unwiederbringlich weg. Das Gericht hörte einen Jungen, dem Mitgefühl fehlte, während er über x-beliebige Gewalt sprach, aber Daniel wusste, dass Sebastian sich ausdrücklich auf King Kongs Schläge gegen seine Mutter bezog.
»Sebastian, hast du Ben geschlagen, damit seine Nase blutete?« Gordon Jones flüsterte beinahe.
Daniel war erstaunt, dass Sebastian ihn hörte. In öffentlicher Sitzung hätte Jones lauter sprechen müssen.
Sebastian schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Blut ist ganz natürlich«, wiederholte Jones. »Als du Bens Blut an dir hattest, fühltest du dich gut. Hattest du jemals das Blut von noch jemand anderem an dir, Sebastian?«
»Hm, also … mein eigenes … wenn ich mich verletzte.«
»Ich verstehe, noch jemand?«
Sebastian wirkte einen Moment lang nachdenklich, grüne Augen, die zur Seite und nach oben blickten. »Das Blut meiner Mum … ich meine nicht, als ich geboren wurde, weil, wenn man geboren wird, gibt’s viel Blut, und es kommt auf das Baby, sondern später, wenn sie verletzt war und mich berührte, dann kriegte ich manchmal welches ab.«
»Ich verstehe. Hast du jemals jemanden dazu gebracht, dass er blutete?«
Irene erhob sich. »Euer Ehren, ich muss die Sachdienlichkeit dieser Verhörmethode infrage stellen.«
Baron nickte und räusperte sich geräuschvoll. »Ja, Mr. Jones, wenn Sie versuchen könnten, bei der Sache zu bleiben.«
»Sehr wohl, Euer Ehren. Sebastian – hast du der
Weitere Kostenlose Bücher