Der Schuldige: Roman (German Edition)
Polizei erzählt – und ich lese jetzt aus den Protokollen deiner Befragung vor: ›Weißt du, wessen Blut an deinem Hemd gewesen sein könnte?‹
›Das von einem Vogel?‹
›Warum, hast du einen Vogel verletzt?‹
›Nein, aber ich habe einmal einen toten Vogel gesehen und aufgehoben. Er war noch warm, und sein Blut war ganz klebrig.‹«
Wieder stand Irene auf. »Euer Ehren«, begann sie, aber Baron brachte sie mit einer Hand zum Schweigen.
»Ich möchte die Antwort hören«, sagte er. »Aber Mr. Jones, Miss Clarke hat recht, Sie müssen Ihre Frage klar formulieren.«
»Ja, Euer Ehren.«
Irene setzte sich.
»Du erinnerst dich, dass du das der Polizei erzählt hast, Sebastian?«, sagte Jones.
»Ja.«
»Warum dachtest du, das Blut an deiner Kleidung sei von einem Vogel und nicht von Ben?«
»Ich kam durcheinander. Der Vogel war an einem anderen Tag.«
»Ich verstehe, an einem anderen Tag. Hast du diesen Vogel verletzt?«
»Nein«, sagte Sebastian, aber dann zögerte er. Sein Blick wanderte nach oben und zur Seite, während er nachdachte. Daniel fand, er sehe aus wie ein junger Heiliger, der verfolgt wird. Sebastian zog seine Unterlippe in den Mund und saugte daran. Dann ließ er sie wieder heraus mit einem Geräusch, das fast wie ein Kuss klang. »Ich hab ihm geholfen …«
»Erzähl mir von dem Vogel, Sebastian. Was hast du mit ihm gemacht, sodass sein Blut auf deine Kleider kam?«
Wieder drehte Sebastian die Augen nach oben, während er sich erinnerte. Die Augen des Jungen wirkten riesig auf dem großen Bildschirm.
»Also … eines Tages habe ich einen Vogel im Park gefunden. Er hatte einen gebrochenen Flügel. Es war eine Taube oder so was. Sie drehte sich immerfort im Kreis, weil sie nicht fliegen konnte. Sie war am Sterben, verstehen Sie. Sie würde von einem Fuchs oder Hund oder einer Katze gefressen werden, oder sie würde einfach verhungern …«
»Ich verstehe, also, was hast du gemacht?« Jones hatte sich zu den Geschworenen umgewandt, aber jedes Mal, wenn er das Wort an Sebastian richtete, blickte er in die Richtung der Kamera.
»Ich trampelte ihr auf den Kopf; ich musste sie von ihren Leiden erlösen, aber sie wollte nicht sterben. Ihre Krallen bewegten sich noch.« Als reichten die Worte nicht aus, hob Sebastian beide Hände vor sein Gesicht. Er hielt seine Hände wie Krallen und ließ sie zucken. »Ich musste das beenden.«
»Was hast du gemacht?«, fragte Jones.
»Ich habe ihr den Kopf abgerissen, und dann … hat sie sich nicht mehr bewegt.« Wieder blickte Sebastian nach oben und zur Seite, während er sich erinnerte. »Aber da hatte ich das Blut des Vogels an mir.« Sebastian wandte sich um und blickte wieder in die Kamera. Er rieb seine Hände aneinander, als würde er sie waschen.
Daniel presste seine Hände unter dem Tisch fest zusammen. Sie waren schweißnass.
»Warum hast du beschlossen, dass du den Vogel töten müsstest, Sebastian?«, flüsterte Gordon Jones, noch immer von dem Jungen weggewandt.
»Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt. Er wäre sowieso gestorben. Ich musste ihn von seinen Leiden erlösen.«
»Du hättest ihn zu einem Tierarzt bringen können. Warum wolltest du dem Vogel nicht helfen? Warum hast du beschlossen, ihn zu ermorden?«
»Ich glaube nicht, dass Tierärzte Tauben mit gebrochenen Flügeln helfen«, sagte Sebastian. Sein Ton war gebieterisch, herablassend. »Der Tierarzt hätte ihn auch getötet, nur mit einer Nadel.«
Das Wort Nadel schien die Haut der Stille im Raum zu durchstechen. Es entstand ein Rascheln, als die Leute im Gerichtssaal sich auf ihren Sitzen bewegten.
»Wie fühltest du dich, als der Vogel tot war?«, fragte Jones.
»Na ja, er war noch klein und musste sterben, das war schon schade. Aber es war besser, dass er nicht weiter leiden musste.«
»Ben Stokes war auch noch klein. Warst du traurig, als er starb?«
Sebastian zwinkerte, zweimal oder vielleicht auch dreimal; er neigte den Kopf zur Seite, als hoffte er, Charlottes Finger würden ihm durch das Haar fahren.
»Nun … ich bin auch noch klein«, sagte er. »Warum sind alle an Ben so interessiert? Er ist jetzt tot, aber ich bin noch hier.«
In dem Saal war es unnatürlich still.
»Keine Fragen mehr an diesen Zeugen, Euer Ehren«, sagte Jones.
»Miss Clarke?«, fragte Baron.
Daniel stockte fast der Atem, aber er sah, dass Irene sich erhob. Trotz der Aussage wirkte sie stark, mutig.
»Sebastian«, rief Irene.
Ihre Stimme war klar und weckte den Raum auf. Sebastian
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