Der Schuldige: Roman (German Edition)
darauf hindeuten , dass ich ihn verletzt habe. Hindeuten bedeutet, Sie wissen es nicht mit Bestimmtheit …«
Daniel sah leise Wut in Turners Gesicht aufsteigen. Sie wollten den Jungen zur Strecke bringen – das war der Zweck dieser ermüdenden Befragung –, aber Sebastian erwies sich als ihnen überlegen.
» Du weißt es doch mit Bestimmtheit, nicht wahr, Sebastian. Sag uns, was du mit Ben gemacht hast.«
»Ich hab’s Ihnen schon gesagt«, antwortete Sebastian, dessen untere Schneidezähne über der Unterlippe zum Vorschein kamen. »Ich hab ihn nicht verletzt. Er hat sich selber verletzt.«
»Wie hat er sich denn selbst verletzt, Sebastian?«
»Er wollte Eindruck auf mich machen, deshalb ist er vom Klettergerüst runtergesprungen und hat sich dabei verletzt. Er hat sich den Kopf angeschlagen und aus der Nase geblutet. Ich habe nachgesehen, ob er okay war, und da habe ich wahrscheinlich sein Blut abgekriegt.«
Trotz seiner Gereiztheit schien diese neue Aussage Sebastian zufriedenzustellen. Er setzte sich aufrecht hin und nickte leicht, als wollte er deren Glaubwürdigkeit bekräftigen.
Um sieben Uhr am Mittwochabend brachte man Sebastian und seiner Mutter das Abendessen, das sie im Zellentrakt aßen. Es bedrückte Daniel, ihnen dabei zuzusehen. Charlotte aß wenig. Daniel folgte ihr, als sie für eine Zigarette nach draußen ging. Es regnete wieder. Er schlug den Kragen seines Jacketts hoch und steckte die Hände in die Taschen. Der Geruch des Zigarettenrauchs drehte ihm den Magen um.
»Sie haben gerade gesagt, dass sie ihn anklagen werden«, sagte Daniel.
»Er ist unschuldig, das wissen Sie.« Ihre großen Augen waren flehend.
»Aber sie werden ihn anklagen.«
Charlotte wandte sich leicht von ihm weg, und er sah, wie ihre Schultern zuckten. Erst als sie die Nase hochzog, wurde ihm klar, dass sie weinte.
»Nicht doch«, sagte Daniel, der sich fast als ihr Beschützer fühlte, »sollen wir es ihm gemeinsam sagen? Er hat gerade jetzt Ihre Kraft nötig.« Daniel war sich nicht sicher, warum er das sagte – er hielt Distanz zu seinen Mandanten –, aber ein Teil von ihm erinnerte sich immer wieder daran, wie er als kleiner Junge in Schwierigkeiten mit einer Mutter gesteckt hatte, die außerstande war, ihn zu beschützen.
Charlotte zitterte noch immer, aber Daniel sah, dass sie die Schultern straffte und tief Luft holte. Durch das V ihres Pullovers wurde ihr Brustkorb sichtbar. Sie drehte sich um und lächelte ihn an. Die Haut um ihre Augen war noch tränenfeucht.
»Wie alt sind Sie?«, fragte sie, und ihre langen Fingernägel lagen plötzlich auf Daniels Unterarm.
»Fünfunddreißig.«
»Sie sehen jünger aus. Ich möchte Ihnen nicht schmeicheln, aber ich dachte, Sie wären noch keine dreißig. Sie sehen gut aus; ich habe mich gefragt, ob Sie alt genug wären für dieses … um gewieft genug zu sein, meine ich.«
Daniel lachte und zuckte mit den Schultern. Er schaute auf seine Füße. Als er wieder nach oben blickte, sah er, dass ihre Zigarette nass wurde. Warme Regentropfen hingen an ihren starren Locken.
»Ich mag Männer, die auf sich achten.« Sie zog gegen den Regen die Nase kraus. »Also, sie klagen ihn an, und was dann?« Sie saugte heftig an ihrer Zigarette, und ihre Wangen wurden hohl. Ihre Rede war schroff, aber Daniel sah, dass sie noch immer zitterte. Er wunderte sich über ihren Mann in Hongkong und dass er ihr diese Sache so ganz allein überließ.
»Morgen früh wird er als Erstes vor dem Jugendgericht erscheinen. Der Fall selbst wird wahrscheinlich an den Strafgerichtshof gehen, also wird es in etwa zwei Wochen eine Verteidigungs- und Gerichtszuständigkeitsanhörung geben …«
»Verteidigungsanhörung? Natürlich ist er nicht schuldig.«
»Das Einzige ist, dass sie verlangen werden, dass er das ganze Verfahren über in Haft bleibt, möglicherweise in einer Jugendarrestanstalt. Bis zum Prozess werden es ein paar Monate sein. Wir werden natürlich darum bitten, dass er gegen Kaution freikommt, aber in Mordfällen neigt der Richter dazu, auf Haft zu entscheiden, selbst bei einem Kind.«
»Mord. Fälle. Mord. Wir können zahlen, verstehen Sie? Ganz egal, was es kostet.«
»Wie gesagt, ich besorge Ihnen einen guten Prozessanwalt, und die werden sich streiten, aber wir müssen darauf vorbereitet sein, dass er vor dem Prozess einige Zeit in Haft ist.«
»Wann wird der Prozess stattfinden?«
»Das kommt drauf an. Ich würde denken, spätestens im November …«
Charlotte hielt sich
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