Der Schuldige: Roman (German Edition)
eher einem kleineren Kind angemessen schienen. Aber Sebastians Unschuld oder Schuld spielte für ihn keine Rolle. Daniel fällte kein Urteil über seine Mandanten. Sie hatten alle das Recht auf Verteidigung, und er arbeitete für die, die er verachtete, ebenso hart wie für die, die er bewunderte. Aber Jugendliche waren immer schwierig. Selbst wenn sie schuldig waren, wie Tyrel es gewesen war, versuchte er sie vor dem Gefängnis zu bewahren. Er hatte gesehen, was mit Jugendlichen drinnen passierte – sie wurden drogenabhängig und erneut straffällig. Die Hilfe, die sie Daniels Ansicht nach brauchten, galt als zu teuer; Politiker nutzten das System der Strafjustiz, um politisch Punkte zu machen.
Daniel saß in seinem Büro, das auf die Liverpool Street blickte. Das Radio lief leise, während er sich Notizen zu Sebastians Fall machte.
Er hatte den Brief ins vordere Fach seiner Aktentasche gesteckt, das Papier war inzwischen durch das ständige Lesen und Wiederlesen zerknittert. Er zog den Brief heraus und las ihn erneut. Das Krankenhaus hatte er immer noch nicht angerufen. Er weigerte sich zu glauben, dass Minnie tot sei, aber er las den Brief wieder, als hätte er etwas versäumt. Es war ein grausamer Trick, fand er. Alle ihre Anrufe im Laufe der Jahre, in denen sie um Verzeihung bat, und dann wurde sie dessen plötzlich müde und bat einfach darum, ihn noch einmal sehen zu dürfen.
Daniel überlegte, ob der Brief ein erneuter Versuch sei, ihn wieder an sie zu ketten. Sie mochte ja krank sein, versuchte aber, ihn zu manipulieren. Er faltete den Brief zusammen und schob ihn von sich weg. Schon wenn er über sie nachdachte, zog sich sein Magen vor Wut zusammen.
Im Büro war es warm, zarte Sonnenstrahlen fielen durch die Schiebefenster und ließen den Staub aufleuchten. Er griff zum Telefon.
Nach all den Dingen, die er ihr gesagt hatte, rief sie trotzdem jedes Jahr zu seinem Geburtstag und manchmal zu Weihnachten an. Er mied ihre Anrufe, lag aber dann nachts wach und stritt sich innerlich mit ihr. Es schien, als täten die Jahre nichts, um die Wut zu besänftigen, die er auf sie hatte. Die paar Male, die sie miteinander gesprochen hatten, war Daniel kurz angebunden und distanziert gewesen und hatte es nicht zugelassen, dass sie ihn in eine Unterhaltung zog, wenn sie danach gefragt hatte, ob ihm die Arbeit Spaß mache oder ob er eine Freundin habe. Er hatte die Trennung schon vor langer Zeit erfolgreich vollzogen, aber Minnie hatte ihm geholfen, sie zu perfektionieren. Sie war der Grund, dass er niemanden an sich heranließ. Sie redete mit ihm über die Farm und die Tiere, als wollte sie ihn an zu Hause erinnern. Aber er fühlte sich lediglich daran erinnert, wie sehr sie ihn enttäuscht hatte. Manchmal sagte sie wieder, dass es ihr leidtue, aber dann unterbrach er die Verbindung. Er legte einfach auf. Ihre Rechtfertigungen verabscheute er noch mehr als das, was sie getan hatte. Sie sagte, es sei zu seinem eigenen Besten geschehen. Er mochte sich nicht daran erinnern, und meistens tat er es auch nicht, aber der Schmerz raubte ihm noch immer den Atem.
Er hatte sie seit mehr als fünfzehn Jahren nicht mehr angerufen.
Nicht seit ihrem Streit, als er zu ihr gesagt hatte, er wünschte, sie wäre tot.
Es hatte offenbar nicht ausgereicht. Er erinnerte sich, dass er sich gewünscht hatte, sie noch tiefer zu verletzen.
Dennoch wählte er ihre Nummer, ohne sie nachsehen oder sich mühsam in Erinnerung rufen zu müssen. Das Telefon klingelte, und Daniel holte tief Luft. Er räusperte sich und lehnte sich an seinem Schreibtisch nach vorn, den Blick auf die Tür seines Büros gerichtet.
Er sah sie vor sich, wie sie sich aus dem Sessel im Wohnzimmer hievte, während ihr neuester Tierheimköter sie aufmerksam beäugte. Ihren Gin konnte er fast riechen und ihre Seufzer fast hören. Nun mal halblang, ich komm ja schon, komm ja schon , würde sie sagen. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Daniel lehnte den Hörer für einen Augenblick an sein Kinn und überlegte. Er hatte keine Zeit dafür. Er legte auf.
Vor dem Fenster sah er einen Läufer, hager und drahtig. Daniel beobachtete, wie er den Verkehr und die Fußgänger umkurvte. An seinem Laufstil und der Länge seiner Schritte sah er, dass er viel Tempo drauf hatte, aber aus der Ferne sah es aus, als laufe der Mann langsam. Durch die Bäume hinter den Fensterscheiben fiel schimmerndes Licht auf Daniel. Er war schon seit früh am Morgen im Büro und seitdem nicht nach
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