Der Schuldige: Roman (German Edition)
die Hand vor den Mund, während sie nach Luft schnappte. »Und seine Verteidigung?«
»Wir werden zur Verteidigung mit potenziellen Zeugen Kontakt aufnehmen und sachverständige Zeugen instruieren, in diesem Fall Psychiater, Psychologen …«
»Warum denn, um alles auf der Welt?«
»Nun, man wird Sebastian beurteilen – ob er fit oder geistig gesund genug ist, um den Prozess durchzustehen.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich. Er ist geistig vollkommen gesund.«
»Aber sie werden auch über das Verbrechen selbst reden und überprüfen, ob Sebastian reif genug ist, die Straftat zu begreifen, die ihm zur Last gelegt wird.«
Sie saugte heftig am letzten Rest ihrer Zigarette. Es war ein Stummel, der zwischen ihren manikürten Nägeln klemmte, und dennoch saugte sie daran. Daniel sah den Lippenstift an dem Stummel und die Nikotinflecken an ihren Fingerspitzen. Er erinnerte sich an die gelben Fingerspitzen seiner eigenen Mutter und die Umrisse ihres Schädels, wenn sie inhalierte. Er erinnerte sich an den nagenden Hunger, wenn er zusah, wie sie einen Zehner gegen Drogen eintauschte. Er erinnerte sich an Dauerlutscher zum Abendbrot und dass er sie immer zu schnell zerkaute.
Er schloss die Augen und holte tief Luft. Er wusste, es war der Brief, nicht Charlotte, der diese Erinnerungen wachgerufen hatte. Er schüttelte den Kopf, als wollte er sie loswerden.
Es war sieben Uhr abends. Der süße Duft von Sebastians heißer Schokolade verbreitete sich besänftigend im Vernehmungszimmer.
Sergeant Turner räusperte sich. Die schriftliche Ankündigung der Anklage wurde Charlotte und Daniel als den zuständigen erwachsenen Vertretern übergeben.
»Sebastian Croll, dir wird folgendes Verbrechen zur Last gelegt: am Sonntag, dem achten August 2010 Benjamin Tyler Stokes ermordet zu haben.«
»Toll«, antwortete Sebastian. Er hielt den Atem an, als wolle er gleich einen Kopfsprung machen.
Daniel fühlte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte, während er den Jungen beobachtete. Auf der einen Seite bewunderte er dessen Unverschämtheit, auf der anderen fragte er sich, was er verbarg. Er blickte zu Charlotte hinüber, die ihre Ellbogen umklammerte und leicht hin und her schaukelte. Es war, als sollte sie statt ihres Sohnes angeklagt werden.
Die Antwort des Jungen ließ Turner einen Moment lang zögern. Sebastian wandte sich an seine Mutter: »Ich hab’s nicht getan, Mammi!«
Charlotte legte ihm eine Hand aufs Bein, um ihn zu beruhigen. Er begann, mit vorgeschobener Unterlippe an seinen Fingernägeln herumzupolken.
»Du musst jetzt gar nichts sagen, aber es könnte deiner Verteidigung schaden, solltest du jetzt etwas verschweigen, worauf du dich später beim Prozess berufst. Alles, was du sagst, kann als Beweis herangezogen werden.«
»Ich hab’s nicht getan, das weißt du. Mum, ich hab’s nicht getan«, sagte Sebastian.
Er fing an zu weinen.
Daniel war am nächsten Morgen um 8.55 Uhr dort, als der Gefangenentransporter vorfuhr, um Sebastian abzuholen. Daniel stand mit verschränkten Armen da, während der Junge mit Handschellen um seine dünnen Handgelenke aus seiner Zelle geführt und in den Käfig auf der Rückseite des Lieferwagens bugsiert wurde. Charlotte weinte hinter ihrer Sonnenbrille. Sie packte Daniel am Unterarm, als die Käfigtüren geschlossen und verriegelt wurden.
»Mammi!«, rief Sebastian von drinnen. »Mammi!« Seine Schreie klangen wie ein Nagel, der über die Metallverkleidung des Lieferwagens kreischte. Daniel hielt den Atem an. Er hatte das mit so vielen Mandanten passieren sehen. Menschen, für die zu kämpfen er bereit war, Menschen, die er bewunderte; Menschen, die er verachtete. Dieser Augenblick war für ihn immer voller Ruhe gewesen. Er signalisierte den Beginn. Den Beginn des Falles, den Beginn der Verteidigung.
Während Daniel sah, wie sich die Türen hinter Sebastian schlossen, hörte er in den verzweifelten Bitten des Jungen seine eigenen Schreie als Kind. Er erinnerte sich an die Zeit, als er in Sebastians Alter gewesen war. Er war aufgewühlt gewesen, zu Gewalttaten fähig. Was war es, was ihn vor diesem Schicksal bewahrt hatte?
Als die Türen verriegelt waren, hörten Daniel und Charlotte noch immer Sebastian im Inneren weinen. Daniel wusste nicht, ob der kleine Junge unschuldig oder schuldig war. Einerseits glaubte er, dass Sebastian ihm die Wahrheit gesagt hatte, auf der anderen Seite war er über das sonderbare Interesse des Jungen an Blut und über die Wutanfälle besorgt, die
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