Der Schuldige: Roman (German Edition)
ein großer Fernseher, aber der Raum war in der Nacht zu groß und zu dunkel, und er konnte aus Angst vor dessen Fremdheit und vor den Schatten, die er freisetzte, nicht schlafen.
Daran gewöhnt, mit den Hühnern aufzuwachen, die Tiere zu füttern und die Eier einzusammeln, wachte Daniel vor den Thorntons auf und schlich sich nach unten. Das Haus war ma kellos sauber. Daniel hatte Hunger und ging deshalb in die Küche, wo er Brot fand und sich eine Scheibe mit Butter bestrich. Als er die Butter in den Kühlschrank zurückstellte, sah er Erdbeermarmelade und strich sie sich dazu auf sein Brot. Es war taghell, aber die Uhr am Herd zeigte zehn nach sechs an. Die Marmelade war nicht so gut wie die von Minnie, bei deren Herstellung er mitgeholfen und sich gewundert hatte, dass alles so schnell geschehen konnte: von der Pflanze in den Topf in den Mund.
Er saß einen kurzen Moment in der Küche, dann trug er seinen Teller ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und fand ein paar Zeichentrickfilme. Über einen von ihnen musste er so laut lachen, dass ihm das Brot aus der Hand fiel und, mit der Marmelade nach unten, auf dem Teppich landete. Er versuchte, die Marmelade mit warmem Wasser wegzureiben, aber er rieb den Fleck nur tiefer ins Gewebe. Daniel stellte seinen Teller auf den Fleck und sah weiter fern.
Es war Jim, der etwa eine halbe Stunde später als Erster nach unten kam und sich die Augen rieb, während er noch immer sein dehnbares Lächeln im Gesicht hatte. Daniel sah an der Uhr am Videorekorder, dass es 6.47 Uhr war. Jim machte sich in der Küche eine Tasse Kaffee, kam ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Daniel blieb mit dem Rücken zu Jim sitzen, aber die Zeichentrickfilme sah er sich nicht länger an; stattdessen beobachtete er Jims blasses Spiegelbild auf dem Bildschirm des Fernsehers. Jim rieb sich das Gesicht, gähnte und hob die Tasse an seinen Mund.
»Bist ’n Frühaufsteher, was?«
Daniel schenkte ihm ein dünnes Lächeln.
»Wann bist du aufgestanden?«
Daniel zuckte mit den Schultern.
»Du bist völlig angezogen und alles. Ich sehe, du hast es dir bequem gemacht.«
»Ich hatte Hunger.«
»Ist in Ordnung. Wenn man Hunger hat, sollte man essen. Das ist keine Kritik.«
Daniel war plötzlich unbehaglich zumute. Er fühlte sich von Jim auf eine Weise beobachtet, dass sich ihm die Nackenhaare sträubten. Er drehte sich wieder zu dem Fernseher um und beobachtete den Mann aus den Augenwinkeln.
»Bist du fertig mit dem Teller, mein Sohn?«, fragte Jim.
Der Mann stand vor ihm, eine Hand nach dem Teller ausgestreckt.
»Nein«, sagte Daniel.
»Wie bitte?«
»Nenn mich nicht so.«
»Nicht wie?«
»Ich bin nicht dein Sohn.«
»Ah«, sagte Jim. Daniel blickte hoch, und das Lächeln dehnte sich wieder über dieses Gesicht. »Natürlich, in Ordnung. Hab verstanden. Na komm, lass mich den Teller da mitnehmen.«
»Lass ihn stehen, okay?« Daniel fühlte plötzlich sein Herz klopfen.
»Normalerweise dulden wir kein Essen im Wohnzimmer, das gehört in die Küche – aber das konntest du nicht wissen. Na komm …«
»Lass ihn, okay?« Daniels Mund war sehr trocken.
»Was ist denn?« Jim lachte. »Ich will doch bloß deinen leeren Teller mitnehmen.«
Daniel sprang auf. Er wusste nicht, wann oder wo sein Körper gelernt hatte, vor männlicher Wut so auf der Hut zu sein, aber er war inzwischen reaktionsschnell. Obwohl Jims Stimme ruhig war, hörte Daniel die erstickte Wut darin.
Er ließ den Kopf hängen. Die Worte, die aus dem Mund des Mannes drangen, griffen ihn jetzt an. Sie waren schwere Dreckklumpen, die auf ihn geschleudert wurden. Er unterließ es, auf die Worte selbst zu hören, sodass Jims Mund zu einem grauenhaften, oszillierenden, anzüglich grinsenden und klaffenden Loch wurde.
Daniel konnte sich nicht daran erinnern, was dann passiert war; nicht in der richtigen Reihenfolge. Er lag unter der Steppdecke und holte tief Luft, wobei er den Geruch des Hundes und der Farm einatmete. Daniel vergrub sein Gesicht und spürte die Hitze seines eigenen Atems auf seiner Haut. Er lag inzwischen fast völlig unter den Bettdecken begraben.
Er blickte zu Jim auf. Daniel war barfuß, ließ seine Zehen auf dem Teppich knirschen und wappnete sich. Jims Gesicht, in dem Zähne und Nase zu groß waren, schien drohend vor ihm aufzuragen. Der Mann beugte sich plötzlich zu Daniel herunter.
Daniel sprang zurück und zog sein Messer aus seiner Jeanstasche. Er ließ es aufschnappen und hielt es dem Mann
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