Der Schuldige: Roman (German Edition)
hineingezogen. Er blieb stehen, eine Hand in der Hosentasche, und lächelte ab und zu über die flachsenden Bemerkungen, die die Raucher am Fenster von sich gaben.
»Wisst ihr denn auch, dass Irene den Fall dieses Engelmörders übernommen hat?«
»Tatsächlich? Problematisch für eine neue Kronanwältin.«
»Wird aber eine mächtige Sache. Old Bailey. Riesen-Aufsehen.«
»Ich weiß, aber ich würde meine Finger davon lassen. Wie ich höre, plädiert er auf nicht schuldig. Der kleine Mistkerl ist doch sicher schuldig wie die Sünde, oder?«
»Gut betuchte Familie. Vater ist Wertpapierhändler in Hongkong. Kennt ihr zufällig Giles, der für Cornells arbeitet? Er kennt ihn. Anscheinend ist er wütend – sagt, es ist alles ein Missverständnis.«
»Na, wir werden’s ja sehen. Irene wird die Sache schon schaukeln.«
»Sicheres Paar Hände.«
»Sicher und … hübsch obendrein.« Die Männer lachten.
Daniel entschuldigte sich und verließ die Gruppe. Er trank sein Glas aus und stellte es auf einen halbrunden Mahagonitisch neben eine Porzellanvase. Er hatte sich wohl zu schwer auf das Tischchen gelehnt, denn die blau-weiße Vase kam eine Sekunde lang bedenklich ins Kippeln, bevor er sie festhielt.
Er knöpfte sein Jackett zu und sah sich nach Veronica um, entdeckte sie aber nicht, und so beschloss er zu gehen. Er fühlte sich genervt. Vielleicht hatte Irene recht, und er war nur müde. Als er auf die Tür zuging, fühlte er, wie ihm ein Schweißrinnsal über das Rückgrat lief.
Auf der Straße waren die Nacht und der kühle Wind eine Wohltat. Er machte an seinem Hemd noch einen Knopf auf und schlenderte gemächlich in Richtung U-Bahn. Aber plötzlich war die momentane Kühle nicht mehr erfrischend, und die Luft erschien ihm dicht und drückend wie die Menschenmenge zuvor.
Er fühlte sich einsam, während er mit den Händen in den Taschen dahinschlenderte. Es war ein Gefühl, das ihm nicht fremd war, und dennoch beschloss er an diesem Abend, es zu genießen – es in den Mund zu nehmen und seinen Geschmack auszukosten. Der war herb und überraschend wie der Rhabarber aus Minnies Garten.
Er war froh, dass er mit Irene gesprochen hatte. Er erinnerte sich, wie sie sich in ihrem Sessel von einer Seite zur anderen gedreht und ihn dann wegen der Praktikantin gehänselt hatte.
Er war nie lange mit einer Frau zusammen. Wenn die Erregung verflogen war und die Intimität real wurde, fand er eine Beziehung schwierig. Er mochte nicht über seine Vergangenheit reden und traute keinen Versprechungen. Nie hatte er einer Freundin gesagt, dass er sie liebte, obwohl er geliebt hatte. So viele hatten gesagt, dass sie ihn liebten, aber er hatte es nie wirklich gefühlt, hatte es ihnen nie glauben können. Er dachte an Irene mit ihren starken, geraden Schulter. Sie hatten zuvor zusammen gekämpft und verloren, und jetzt teilten sie eine Wahrhaftigkeit und Unschuld miteinander. Doch trotz ihrer Freundschaft bestand zwischen ihnen eine Schranke professionellen Arbeitsethos’, die er nie durchbrechen zu können meinte.
Er ging in die U-Bahn-Station, passierte die Drehkreuze, stellte sich auf die rechte Seite der Rolltreppe und fuhr teilnahmslos in die Eingeweide der Stadt hinunter. Er dachte an den bevorstehenden Prozess und die Pressegeschichten, die nur noch schlimmer würden. Sebastian – namen- und gesichtslos – war den Zeitungen zufolge an sich böse. Nicht nur für schuldig wurde er gehalten, sondern an sich böse war der Junge. Die Presse ging von keiner Unschuldsvermutung aus.
Sebastians tatsächliche Unschuld machte Daniel weniger Sorgen als sein Überleben. Er erwartete mit Bestimmtheit, dass der Junge, den er und Irene letztes Jahr verteidigt hatten, tot sein würde, ehe er zwanzig wäre. Er wollte nicht, dass Sebastian das gleiche Schicksal hätte.
Daniel spürte, wie die Wärme der U-Bahn ihn umhüllte, und dachte über die Grenze nach, die Erwachsene von Kindern trennt. Er kannte die gesetzliche Grenze: Strafmündigkeit ab dem Alter von zehn Jahren. Daniel fragte sich, wo die reale Grenze lag. Wieder dachte er über sich in Sebastians Alter nach, und wie dicht daran er gewesen war, in die Lage dieses Jungen zu geraten.
18
Die Thorntons weigerten sich sogar, Daniel zu Minnie zurückzufahren. Tricia wurde zu ihnen geschickt, um ihn am Sonntagnachmittag um drei abzuholen, obwohl ein langes Wochenende geplant gewesen war und Daniel eigentlich bis Montagabend bleiben sollte.
Daniel beobachtete durch das
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