Der Schuldige: Roman (German Edition)
Kinn. »Du bist ein lieber Junge, und ich bin sehr froh, dass ich dich kenne.«
Unwillkürlich versuchte er, die Tränen aufzuhalten.
An ihrer Strickjacke roch er den Hund und das Gras von draußen. Der Tag lastete plötzlich schrecklich schwer auf ihm, und er lehnte sich an sie und legte seine Wange auf ihre Schulter. Sie drückte ihn, legte beide Arme um ihn und presste die Schlechtigkeit aus ihm heraus.
»Aber du darfst Menschen nicht verletzen, Danny, oder meine kleinen Tiere zum Beispiel.«
Auf diese Worte hin riss er sich los. Noch immer beschämt.
»Ich weiß, dass Menschen dich verletzt haben, auf viele verschiedene Weisen, und ich kann verstehen, dass du ebenfalls verletzen möchtest, aber ich will dir mal was sagen: Dieser Weg ist nur was für Ittjoten. Ich sollte es wissen. Du kannst so viel mehr sein.«
Daniel schniefte und wischte sich Augen und Nase mit seinem Ärmel.
»Musstest du ihn denn verwunden? Du hättest mit ihm reden können oder ihn bitten können, dich zurückzubringen, wenn du das wolltest. Du musstest ihn nicht verwunden.«
Daniel nickte, das Kinn so dicht an der Brust, dass sie nicht sicher war, ob sie ihn ihr zustimmen sah oder nicht.
»Warum hast du es denn getan? Hast du gedacht, er würde dich schlagen?«
»Vielleicht … ich weiß nicht … nein.« Er sah sie an und schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren in den Winkeln nach unten gedreht, und zwischen ihren Brauen lag eine tiefe Falte.
»Warum dann?«
Er holte tief Luft. Er blickte auf seine Füße. Seine Socken hingen herunter. Er wirbelte den Fuß herum und sah den Socken einem Moment lang tanzen.
»Ich will hierbleiben«, sagte er, den Blick noch immer auf seinen Socken gerichtet.
Eine Pause entstand. Er beobachtete ihre Hände. Sie waren lose gefaltet. Er hatte Angst, ihr in die Augen zu sehen.
»Du meinst, du hast es getan, damit sie keine Lust hätten, dich zu adoptieren?«, fragte sie schließlich. Ihre Stimme war leise.
Er fühlte einen Schmerz in seinem Rachen. Er erinnerte sich an Tricias Worte, nachdem er seiner Mutter das letzte Mal auf Wiedersehen gesagt hatte.
Wenn mich niemand sonst haben will, kann ich dann bei ihr bleiben?
Nein, Schatz. Sie ist eine Pflegemutter. Noch andere kleine Jungen oder Mädchen werden sie brauchen.
»Ich will hierbleiben.« Es war alles, was er sagen konnte. Er ballte seine Hände zu Fäusten und wartete darauf, dass sie was sagte. Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern.
»Würdest du wollen, dass ich dich adoptiere? Wenn du wirklich bleiben möchtest, wäre es für mich das Allerschönste. Ich würde dich auf der Stelle adoptieren, wenn sie mich ließen. Tatsächlich habe ich dich in dem Moment adoptiert, als ich dich das erste Mal sah. Möchtest du bleiben? Ich versuch’s für uns. Ich kann nichts versprechen, aber ich versuche es.«
Sie sah ihm in die Augen. Sie hielt ihn bei den Schultern, sodass er sie ansehen musste. Er wollte nichts sagen, weil er wusste, dass er wieder weinen würde. Er versuchte zu nicken, aber sie hatte ihn so fest im Griff, dass es sicher so ausgesehen hätte, als schüttele er sein Kinn. Stirnrunzelnd und mit einer in die Höhe gezogenen grauen Augenbraue sah sie ihn an.
»Möchte, dass … du mich adoptierst«, brachte er heraus.
Ihre Finger bohrten sich in seine Schultern. »Du musst wissen, ich möchte es auch, aber es ist eine juristische Sache. Ich weiß, dir ist klarer als sonst jemandem, dass es zu deinen Ungunsten ausgehen kann. Das Gesetz folgt seinen eigenen Regeln, und ich verstehe sie nicht, aber ich werd’s für uns probieren. Du darfst dir keine Hoffnungen machen, ehe wir nicht wirklich unterschreiben. Verstanden?«
Sie umarmte ihn, und er schluckte und ließ wieder seine Tränen in die Wolle ihrer Strickjacke sickern. Er gab keinen Ton von sich, aber ihm zerriss es das Herz. Er verging vor Freude in diesem Moment, weil sie ihn wollte.
»Heilige Muttergottes«, sagte sie plötzlich. »Deine Chips werden kalt sein, und das Huhn verbrennt völlig.«
Er holte tief Luft, voller Vorfreude auf ihre kalten Chips. Auf nichts anderes hatte er Lust.
19
Sebastian sah anders aus, als Daniel zu der Jugendarrestanstalt zurückkehrte, um sich mit ihm zu treffen. Seine kühle Selbstsicherheit war unverändert, aber er war schwerer, aufgedunsen. Das Gesicht des Jungen war voller, und unter den Augen hatte er dunkle Ringe. Seine dünnen Handgelenke waren dicker geworden, und auf seinen Handrücken hatte er Grübchen. Man bekam wenig
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