Der Schuldige: Roman (German Edition)
wegen der Zeit, die er in der öden Betonzelle mit Warten verbringen musste. Es war hart genug für Erwachsene. Am Tag zuvor war Sebastian durch den Gerichtssaal geführt worden, und man hatte ihm die einzelnen Vorgänge erklärt, aber nichts konnte ein Kind auf all dies wirklich vorbereiten.
Daniel setzte sich neben Sebastian auf das Bett. Beide blickten sie geradeaus auf die Wand gegenüber, die mit Graffiti bedeckt war: Schweinereien und fromme Sprüche Seite an Seite. Daniel bemerkte einen Satz, der mit einem Messer in den Beton gekratzt worden war: Ich liebe dich, Mum.
»Haben Sie heute Morgen Ihren Langlauf gemacht?«, fragte Sebastian.
»Ja. Hast du ein Frühstück bekommen?«
»Yeah.« Sebastian seufzte und blickte wieder uninteressiert weg.
»Ich geh jetzt besser«, sagte Daniel und stand auf.
»Mr. Hunter?«
»Ja?«
»Ich habe Angst.«
»Du schaffst das schon. Haben sie dir gezeigt, wo du sitzen wirst? Du wirst neben mir sitzen, genau wie wir es gesagt haben. Halt die Ohren steif, hm?«
Sebastian nickte, und Daniel klopfte, um hinausgelassen zu werden.
Als die Tür zu war, legte Daniel die flache Hand dagegen, dann machte er sich auf den Weg nach oben zum Gerichtssaal.
Der Richter und die Anwälte trugen ihre Roben, aber keine Perücken, weil man fand, dass sie auf Kinder allzu Furcht einflößend wirkten. Die Publikumsgalerie war mit Journalisten fast gefüllt, und Daniel wusste, dass noch viel mehr draußen waren, die keinen Zutritt bekommen hatten. Man hatte vereinbart, die Zahl der Journalisten auf zehn zu beschränken. Im Gerichtssaal summte es erwartungsvoll. Daniel nahm seinen Platz ein, wo er zusammen mit Sebastian sitzen würde. Irene Clarke und Sebastians Rechtsberater, Referendar Mark Gibbons, saßen vor ihm.
An seiner Unterlippe saugend wurde Sebastian von zwei Polizeibeamten hereingeführt. Daniel beugte sich herunter und legte ihm zur Beruhigung die Hand auf die Schulter. Nun waren sie alle eine seltsame Familie, die darauf wartete, dass die Sache begann.
Sebastians Eltern saßen hinter ihnen. Charlotte trug ein gut geschnittenes Kostüm. Kenneth lehnte sich auf seinem Platz sehr weit nach hinten und faltete die Hände vor dem Bauch. Er schaute ständig auf seine Uhr, während Charlotte ihr Make-up in einem kleinen runden Spiegel überprüfte und ihren Lippenstift erneuerte. Von der Presseabteilung auf der Galerie hörte man Gemurmel, sonst schien aber niemand zu reden.
Daniel hörte Sebastian schlucken.
Der Richter trat ein. Daniel stupste Sebastian gegen den Ellbogen als Zeichen, dass er aufstehen solle. Alle erhoben sich und nahmen wieder Platz.
Schöffen wurden ausgewählt und vereidigt. Die Gewählten starrten Sebastian quer durch den Saal unverhohlen an. Sie hatten so viel über ihn gelesen, aber nun konnten sie sein Gesicht sehen und würden über sein Schicksal entscheiden.
Benjamin Stokes’ Eltern waren auf der Galerie zu sehen: Madeline und Paul. Sie saßen nebeneinander, still und ernst, und boten weder einander Trost noch schauten sie zu Sebastian hinunter. Auch sie warteten kummervoll, dass die Sache begann.
Der Richter lehnte sich auf das Pult und sah über seine Brille hinweg in Richtung Publikumsgalerie.
»Verehrte Pressevertreter, ich möchte Sie daran erinnern, dass der Beklagte, Sebastian Croll, bis auf Weiteres in allen Prozessberichten nicht beim Namen genannt werden darf.«
Die Konsonanten in Sebastians Namen wirkten wie ein Angriff auf den andachtsvollen Saal. Daniel runzelte die Stirn.
Der Richter ließ seine Brille noch weiter auf die Nase herunterrutschen und richtete den Blick auf Sebastian.
»Sebastian, ich werde dich nicht bitten aufzustehen, wenn ich das Wort an dich richte, wie es sonst unsere Praxis im Gericht ist. Du sitzt auch nicht auf der Anklagebank, sondern im Gerichtssaal selbst, neben deinem Anwalt und in der Nähe deiner Eltern. Viele unserer Prozesse ziehen sich lange hin und mögen dir vielleicht verwirrend erscheinen. Ich erinnere dich daran, dass du dich an deine Anwälte und Verteidiger wenden kannst, falls du irgendetwas nicht verstehst.«
Sebastian blickte zu Daniel hoch, der ihm kurz eine Hand auf den Rücken legte, um ihn darauf hinzuweisen, dass er nach vorn schauen sollte. Sebastian war bereits darüber unterrichtet worden, wie er sich vor Gericht zu verhalten habe.
Irene Clarke stand auf, unter der Robe die Hand auf die Hüfte gestemmt.
»Euer Ehren, ich möchte eine Rechtsfrage zur Sprache bringen …«
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