Der Schuldige: Roman (German Edition)
tollen Blick von hier oben«, sagte Daniel.
»Ich glaub’s dir auch so.«
Am Ende eines Mauerabschnitts blieb er mit den Zehen über der Kante stehen und beugte die Knie.
»Nicht springen, Danny.«
»Du könntest mich auffangen.«
»Du wirst dir die Knie aufschrammen.«
»Werd ich nicht. Ich bin schon von höheren Mauern als dieser runtergesprungen.«
»Okay, also, greif nach meinen Händen, das wird helfen, deinen Sturz zu bremsen.«
Er sprang und fühlte, wie ihre starken, rauen Hände seine drückten; er fiel auf sie, vor Erregung heftig atmend.
Auf der Suche nach einer Tasse Tee spazierten sie den Hügel hinauf. Daniel schaute zu ihr hoch, aber sie sah ihn nicht an. Sie lächelte mit offenem Mund in die Ferne, und ihre Brust hob und senkte sich.
Daniel schluckte, dann ließ er seine Hand in ihre gleiten. Sie schaute zu ihm runter und lächelte, und er blickte verlegen weg, aber er fühlte eine Spannung in seinem Bauch, als wenn auch sein Magen zu lächeln versuchte. Er liebte die Rauheit ihrer Hand. Beim Gehen rieb sie mit dem Daumen über seine Finger.
So fühlt sich Glück an, dachte er: dieser klare Tag und der Geruch des Grases und der Wall, der schon Jahrhunderte hier ist, und das Gefühl ihrer Hand und seine Lippen feucht in der Erwartung einer Tasse heißen, süßen Tees.
Er dachte an seine Mutter. Er wünschte sich, dass sie von diesem Moment erführe. Während seine Hand in Minnies Hand warm wurde, stellte er sich vor, dass seine Mutter käme und ihn bei der anderen Hand nähme. Der heutige Tag war fast perfekt, aber das würde ihn vollkommen machen.
URTEIL
21
Sebastians Prozess sollte im Old Bailey stattfinden.
Daniel wachte früh zu seinem Lauf auf, aber auch nachdem er geduscht hatte, war ihm vor Anspannung mulmig. Er wusste nicht, warum ihm der Prozess ein so ungutes Gefühl bereitete. Er war an Prozesse im Old Bailey und an Mordprozesse gewöhnt, aber heute fühlte er sich anders: als wenn er selbst vor Gericht stünde.
Im Eingang zum Old Bailey drängte sich eine Menge wütender Leute und gieriger Pressevertreter. Er erwartete nicht, dass die Fotografen wüssten, wer er sei, und dachte, Irene würde alle Aufmerksamkeit abbekommen, aber kaum kam er näher, hörte man den Ruf: » Das ist einer von den Anwälten« , gefolgt von einem Blitzlicht.
»Kindermörder!«, schrie jemand in der Menge. »Du verteidigst einen Kindermörder. Der kleine Halunke sollte hängen. Fahr zur Hölle!«
Als Anwalt der Verteidigung hatte er sich an Feindseligkeiten gewöhnt. Früher war er auf der Straße beschimpft worden und hatte Post mit Morddrohungen bekommen. Solche Dinge machten Daniel nur umso entschlossener, den Fall durchzustehen. Jeder Mensch verdiente, verteidigt zu werden, egal, was er getan hatte. Aber die Wut der Menge hier erschien ihm ungewöhnlich. Er verstand Zorn über den Verlust unschuldigen Lebens, aber er verstand nicht, warum Menschen so bereit zu sein schienen, ein Kind zu verteufeln. Der Verlust eines Kindes war grausam, weil er eine gestohlene Verheißung bedeutete, aber Daniel fand, dass die Kriminalisierung eines anderen Kindes ebenso grausam war. Daniel erinnerte sich, dass einer seiner Pflegeväter ihn böse genannt hatte. Auch wenn Sebastian schuldig wäre, brauchte er Hilfe, keine Verurteilung. Er beobachtete das Wogen der Menge – johlende Gesichter, die Bestrafung verlangten. Demonstranten schimpften auf den Straßen und schwenkten Plakate, auf denen Leben gegen Leben stand. Sie skandierten Scheißkerl , immer wenn sie jemanden sahen, der mit Sebastian zu tun hatte, und drängten sich gegen eine provisorische Barrikade und Polizeibeamte in gelben Westen.
Ein Polizeibeamter zog ihn am Ellbogen und trieb ihn voran, und Daniel trabte die letzten paar Stufen nach oben in das Gerichtsgebäude. Sebastian war in einem gepanzerten Transporter zum Gericht gefahren worden und wartete in einer Beobachtungszelle im Untergeschoss.
Als Daniel in die Zelle trat, saß Sebastian auf einem Betonbett, auf dem eine blaue Plastikmatte lag. Er sah blass aus und trug einen marineblauen Anzug, der ihm in den Schultern ein bisschen zu weit war, sowie eine gestreifte Krawatte. Die Aufmachung ließ den Jungen noch jünger erscheinen als seine elf Jahre.
»Wie geht’s, Seb?«, fragte Daniel.
»Ganz gut, danke«, sagte Sebastian und blickte weg.
»Scharfer Anzug.«
»Mein Dad wollte, dass ich ihn trage.«
Es war noch fast eine Stunde bis Prozessbeginn, und Daniel tat Sebastian leid –
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