Der Schuss nebenan Kommissar Morry
Stafford, der mir einige Zimmer seines Hauses vermietet hatte. Ich freundete mich rasch mit ihm an. Er ist ein sehr liebenswerter, feinfühliger und gütiger Mensch. Bald lernte ich auch seine Lebensgeschichte kennen. Das unaufgeklärte, mysteriöse Kidnapping fesselte mich; es schien so sinnlos, ich wollte es aufklären..."
„Warum? Aus welchen Gründen? Dieser Sir Stafford war für Sie doch ein Fremder."
„Nicht mehr, als ich anfing, mich für die Hintergründe des Kidnapping zu interessieren. Da war er mir bereits ein guter Freund geworden. Ich wollte ihm helfen. Ich wollte seinem Leben neuen Auftrieb geben, indem ich seine vermißte Tochter fand."
„Wie stellten Sie es an?"
„Ich sammelte zunächst das ganze Material, das darüber vorlag. Die Polizei hatte nach dem Kidnapping angenommen, daß sich der Räuber melden würde, um die Eltern zu erpressen, aber nichts dergleichen geschah. Nun vermutete man, daß eine junge Frau, die kinderlos geblieben war, aus einem krankhaften, fehlgeleiteten Muttertrieb heraus das Kind geraubt habe. Nachforschungen, die in dieser Richtung betrieben wurden, blieben jedoch ohne Erfolg. Darüber waren Wochen vergangen; aus den Wochen wurden Monate, und die Staffords wurden immer verzweifelter, immer hoffnungsloser."
„Fassen Sie sich kurz!" drängte Janet.
„Wie Sie wünschen. Offenbar kam die englische Polizei niemals auf den Gedanken, daß es jemand eingefallen sein könnte, das geraubte Baby ins Ausland zu verschieben. Ich besorgte mir die Passagierlisten jener Tage und Wochen und studierte sie eifrig. Ein alleinstehender Mann wie Mr. Rodrigez, der mit einem Baby reist, das mußte mir natürlich auffallen! Ich erfuhr, daß er mit dem Kind bei Professor Lindley gewesen war. Ich suchte den Arzt auf und hörte, daß die kleine Janet dem Tod geweiht gewesen sei. Eine Rückfrage in New York ergab aber, daß sich Janet Rodrigez, zwanzig Jahre danach, noch bester Gesundheit erfreute!"
Janet, die blasser denn je war, nickte mühsam. „Ich verstehe jetzt, wie die Dinge Zusammenhängen können — falls nicht ein gräßlicher Irrtum vorliegt. Aber was ist aus der anderen Janet geworden, aus dem kranken Kind?"
„Ich bin auch dieser Spur nachgegangen. In einer Weltstadt wie London werden wöchentlich mehrere Babys ausgesetzt; eines davon, das man etwa zwei Monate nach dem Raub der kleinen Simone entdeckte, war ein dunkelhaariges, gleichaltriges Mädchen, das an der Krankheit verstorben war, um deretwillen Mr. Rodrigez mit Janet nach London gefahren war. Das Baby war in eine Wolldecke gewickelt. Niemand weiß, wer das Kind bis zu seinem Tod pflegte. Ich vermute, daß Mr. Rodrigez die kleine Janet einer armen Frau anvertraute, die er dafür fürstlich belohnte, das Kind bis zu dessen unausbleiblichem Tod zu betreuen."
„Wie schrecklich!" flüsterte Janet.
„Das ist eigentlich schon alles", meinte Lord Bramsey, fast ein wenig erschöpft von dem, was er vorgetragen hatte.
„Mama darf es nie erfahren", murmelte Janet mit starrem Blick. „Nicht jetzt. Es wäre einfach zuviel für sie.”
„In England lebt ein alter, gütiger Mann . . . Ihr Vater. Er hat ein Anrecht auf Sie. Warum denken Sie in diesem Moment nicht an ihn?"
„Wie könnte ich? Ich weiß nicht mal, wie er aussieht."
Lord Bramsey erhob sich. „Sie werden jetzt allein sein wollen, allein mit Ihren Gedanken."
Janet rührte sich nicht. Sie saß am Tisch, als, habe sie plötzlich alles Leben verlassen. Lord Bramsey ging zur Tür. Er blickte noch einmal zurück. Dann fiel die Tür hinter ihm leise ins Schloß.
*
„Der Tod muß kurz nach Mitternacht eingetreten sein, zwischen ein und zwei Uhr", konstatierte Dr. Wickers, der Polizeiarzt. Er zog das weiße Laken über die Tote und gab den Trägern ein Zeichen, mit der Bahre zu verschwinden. Die Fotografen waren bereits gegangen. Zwei Assistenten von Inspektor Flappan untersuchten Miß Releys Wohnung, während Kommissar Bristow und der Inspektor im Wohnzimmer saßen und Betrachtungen darüber anstellten, wie es zu dem Mord gekommen sein könnte.
„Es gibt keinen Zweifel, daß es zwischen dieser Tat und dem Mord an Rodrigez einen Zusammenhang gibt", bemerkte Flappan. „Sollte mich nicht wundern, wenn das Mädchen mit der gleichen Waffe getötet wurde, die auch Rodrigez zum Verhängnis wurde."
„Brauchen Sie mich noch?" fragte Dr. Wickers, ein kleiner, unscheinbarer Mann mit' einem schmalen, verkniffenen Mund.
„Jetzt nicht, Doktor, machen Sie in Ruhe
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